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Polnischer Protest

Polnischer Protest

Zur pragmatistischen Fundierung von Theorien sozialen Wandels

vonDietz, Hella
Deutsch, Erscheinungstermin 08.10.2015
lieferbar

eBook

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46,00 €
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Theorie und Gesellschaft

Herausgegeben von Jens Beckert (Köln), Rainer Forst (Frankfurt), Wolfgang Knöbl (Göttingen), Frank Nullmeier (Bremen) und Shalini Randeria (Wien)

Informationen zum Titel

978-3-593-43239-7
Frankfurt
08.10.2015
2015
1
1. Auflage
eBook
PDF mit digitalem Wasserzeichen
332
Frankfurt
Deutsch
Soziologie
Inhalt

Vorbemerkung 9

1. Einleitung 11

1.1 Das empirische Rätsel und seine Relevanz für die soziologische Theorie 16

1.1.1 Zur sozialtheoretischen Fundierung der Totalitarismusdebatte 19

1.1.2 Zur Weiterentwicklung der Protestforschung 23

1.1.3 Zur Revision des Säkularisierungsmythos 25

1.1.4 Zur Weiterentwicklung der Soziologie der Menschenrechte 26

1.2 Aufbau des Buches 28

2. Die "neuen Aufbegehrenden": Die lokale Aneignung von Menschenrechten 32

2.1 Einleitung 32

2.1.1 Auftakt: Die Genealogien der Aufbegehrenden 33

2.1.2 Zur Kritik an etablierten Theorien 38

2.1.3 Die pragmatistische Alternative 50

2.2 Prolog: Die Anfänge der katholischen Erneuerungsbewegung 55

2.3 Die katholische Erneuerungsbewegung 1945-1955 68

2.4 Die Anfänge der linken Reformbewegung 1953-1956 80

2.5 Zwei Konzeptionen des Dialogs 1956-1968 97

2.6 Die linke Reformbewegung 1956-1968 106

2.7 Der offene Dialog 1971-1975 118

2.8 Schluss 136

2.8.1 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse 136

2.8.2 Zur Revision der etablierten Erklärungen 142

2.8.3 Vom Mehrwert der pragmatistischen Perspektive 145

2.8.4 Ausblick: Die Fortführung des Dialogs 149

3. Vom Ethos der "neuen Aufbegehrenden" zur Protestbewegung des KOR 151

3.1 Einleitung 151

3.1.1 Auftakt: Der Sommer 1976 151

3.1.2 Zur Kritik an der strukturtheoretischen Erklärung 157

3.1.3 Die pragmatistische Alternative 168

3.2 Die Umdeutung der Situation: apolitische Selbstverteidigung der Gesellschaft 172

3.3 Die strukturerhaltenden Interaktionsmuster der Warschauer Intelligenz: Von Gänsen und Zwergen 189

3.4 Die Mobilisierung der AktivistInnen: Identität und Bewährung 206

3.5 Schluss 219

3.5.1 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse 220

3.5.2 Zur Revision der etablierten Erklärungen 224

3.5.3 Vom Mehrwert der pragmatistischen Perspektive 225

4. Von Brüchen und Kontinuitäten: KOR und Solidarno?? 226

4.1 Einleitung 226

4.1.1 Auftakt: Der August 1980 226

4.1.2 Zur Kritik an etablierten Erklärungen 236

4.1.3 Die pragmatistische Alternative 246

4.2 Auf der Schwelle: Der Papstbesuch 1979 250

4.3 Die Gründung der Solidarno?? 1980 als liminale Erfahrung 257

4.4 Das Verhältnis von KOR und Solidarno?? 269

4.5 Die Auflösung des KOR, die Niederschlagung der Solidarno?? und die Umorientierung der oppositionellen Elite 281

4.6 Schluss 291

4.6.1 Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse 292

4.6.2 Zur Kritik an etablierten Erklärungen 294

4.6.3 Vom Mehrwert der pragmatistischen Perspektive 295

5. Schlussbetrachtung 297

5.1 Relevanz der Ergebnisse für die Analyse der polnischen Gesellschaft nach 1989 298

5.2 Relevanz der Ergebnisse für die soziologische Theorie 305

Literatur 310

Theorie und Gesellschaft

Herausgegeben von Jens Beckert (Köln), Rainer Forst (Frankfurt), Wolfgang Knöbl (Göttingen), Frank Nullmeier (Bremen) und Shalini Randeria (Wien)
Die Entstehung zweier polnischer Protestbewegungen - der Solidarnosc und des weniger bekannten Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) - scheint nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus nur noch von historischem Interesse zu sein. Hella Dietz gelingt es in ihrer Studie jedoch zu zeigen, dass die Analyse dieser beiden Bewegungen, die bislang nur selten soziologisch untersucht worden sind, vermeintliche Paradoxien der polnischen Gegenwart zu erklären hilft und die soziologische Theorie (des amerikanischen Pragmatismus, der Protestforschung, der Modernisierung und der Menschenrechtsforschung) weiterzuentwickeln vermag.
Hella Dietz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Göttingen.
Vorbemerkung

Dieses Buch ist die überarbeitete und deutlich erweiterte Fassung meiner Dissertation, die im September 2007 unter dem Titel "Von der Opposition der Werte zu den Werten der Opposition. Eine pragmatistische Analyse der zivilgesellschaftlichen Opposition in Polen" am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt angenommen und 2008 mit dem dritten Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen ausgezeichnet wurde.

In den letzten zwölf Jahren haben eine Reihe von Menschen und Institutionen auf unterschiedliche Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen - ihnen will ich an dieser Stelle herzlich danken. Der Stiftung der Deutschen Wirtschaft sei für die finanzielle Förderung der Dissertation, dem Max-Weber-Kolleg für hervorragende Arbeitsbedingungen und für die finanzielle Förderung dreier Archivau-fenthalte in Warschau, und den MitarbeiterInnen des dortigen Archivs Karta für geduldige Hilfestellungen bei schwierigen Recherchefragen gedankt.

Von allen anderen sei zuallererst meinem Betreuer und Erstgutachter Hans Joas gedankt, der mir ein inspirierender Lehrer war und das Projekt durch kritische Fragen vorangetrieben und zugleich vorbehaltlos unter-stützt hat. Ich danke den Fellows, Kollegiaten und Kollegiatinnen des Max-Weber-Kollegs für die schöne Erfahrung einer Diskussionskultur, die sich nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden gibt - insbesondere die Gespräche mit Christoph Menke und Hans Kippenberg, mit Astrid Reuter, Christian Scherer und Sibylle van der Walt waren in der Anfangsphase des Projekts hilfreich. Wie so oft haben mir in der Folgezeit vor allem die zunächst unbequemen, kritischen Einwände weitergeholfen, meine Argumente zu schärfen. Die wichtigsten kamen von Andreas Pettenkofer, Robert Brier, Matthias König und Ewa Morawska, von Nikolai Genov, dem überdies für die Übernahme des Zweitgutachtens gedankt sei, und von Lisa Bonn, die zudem dankenswer-terweise - ebenso wie Anne Krüger - das gesamte Manuskript gelesen und kommentiert hat.

Ein besonderer Dank gebührt Wolfgang Knöbl - für die entscheiden-den Impulse zur grundlegenden Überarbeitung der Dissertationsschrift, für viele Jahre intellektueller Anregungen und für angenehme Arbeitsbedin- gungen in Göttingen. Ebenfalls herzlich danken möchte ich Andreas Gläser für inspirierende Gespräche während meines Forschungsaufenthal- tes an der University of Chicago. Weitere wichtige Hinweise verdanke ich Diskussionen im Rahmen von Projektpräsentationen an den Universitäten von Chicago, Danzig, Helsinki, Berlin, Frankfurt/Main, Konstanz und Göttingen; Gesprächen mit Jerzy Jedlicki, Pawe? S?piewak, Mateusz Fa?kowski und Gunter Dehnert; sowie den Gutachten der HerausgeberInnen dieser Buchreihe. Für das sorgfältige Korrektorat danke ich Anette Nagel.

Julia Weber und unsere gemeinsame Schreibklausur waren in der Ent-stehungszeit der ersten Fassung von großer Bedeutung. Für die Überarbei- tung des Buches hat sich Marion Detjen immer wieder für klärende Diskussionen zur Verfügung gestellt. Ohne Ansgar und Gesine wäre diese Überarbeitung vermutlich schneller, aber mit weit weniger Freude fertig worden. Ohne Stephan Eckner, seinen unbestechlichen Scharfsinn und seine liebevolle Unterstützung wäre es vermutlich gar nicht fertiggestellt worden. Ihm ist dieses Buch gewidmet.



1. Einleitung

Seit 1989 ist der Staatssozialismus als Gesellschaftsmodell diskreditiert. Der Beginn der Gespräche am Runden Tisch in Polen im Februar, die er-sten demokratischen Wahlen im Juni, die Öffnung der Grenzanlagen zwi-schen Ungarn und Österreich im Mai und der Fall der Berliner Mauer im November hatten gezeigt, dass der Staatssozialismus, der noch kurze Zeit zuvor eine zwar wirtschaftlich weniger erfolgreiche, aber stabile System-alternative zu sein schien, sogar in den Augen der ostmitteleuropäischen Regierungseliten als gescheitert galt. In den Monaten nach dem Zusam-menbruch wurden in Ost- und Ostmitteleuropa neue Regierungen einge-setzt, die von plan- auf marktwirtschaftliche Ordnungsmodelle umstellten und bestehende politische Institutionen - mehr oder weniger konsequent - demokratisierten. Seither erscheinen Markt, Demokratie und Men-schenrechte als alternativlose Trias weltkultureller Prinzipien (vgl. Meyer 2000).

Dieser etablierten Lesart der Ereignisse zufolge war "der Westen" 1989 endgültig zur Blaupause für die Modernisierung Osteuropas geworden. Folglich nahm das sozialwissenschaftliche Interesse an den Er-eignissen vor 1989 seit den 1990er Jahren drastisch ab. Noch in den 1980er Jahren hatten sich demokratietheoretisch inspirierte Sozialwis-senschaftlerInnen von Ideen der ost- und ostmitteleuropäischen Dissidenz Antworten auf das diagnostizierte Demokratiedefizit westlicher Demokra-tien versprochen (vgl. Arato 1981; Keane 1988; Ost 1990; Arato/Cohen 1992) und in der Gewerkschaftsbewegung der Solidarno?? einen Modellfall für die zukunftsweisende "Neue Soziale Bewegung" gesehen (vgl. Touraine u.a. 1982). Nach 1989 klassifizierten sie den Umbruch enttäuscht als eine nur "nachholende Revolution" (Habermas 1990). Sie beklagten, dass kaum jemand während und nach dem Umbruch ernsthaft an die Debatten über einen Dritten Weg anschließen wollte (siehe Ost 1990; Greskovits 1998) und dass es auch nach 1989 nicht zu dem erwar-teten Wiederaufleben der Zivilgesellschaft kam (siehe Kubik/Linch 2006). Daraufhin überließen sie der modernisierungstheoretisch inspirierten Transformationsforschung das Feld, die sich auf die Frage beschränkte, wie ein gesteuerter institutioneller Wandel trotz eines vermuteten "Dilemmas der Gleichzeitigkeit" (Offe 1991) von wirtschaftlichen Reformen und De-mokratisierung möglich sei und prüfte, inwieweit die Transformations-länder diese Vorgaben erreichten. Die Ereignisse vor 1989 berücksichtigte sie nur in Form unterschiedlicher Ausgangsbedingungen.

Diese Lesart der Ereignisse scheint die Schlussfolgerung nahezulegen, dass staatssozialistische Gesellschaften mit ihrem nun "überlebten" Modell "westlichen" Gesellschaften doch zu unähnlich sind, um von ihrer Analyse Erkenntnisse für die eigene Gesellschaft zu erwarten. Nachdem sich überdies herausgestellt hatte, dass sich einfache Erklärungen über Konti-nuitäten eines "Homo sovieticus" (Tischner 2000 [1990]; 1992) oder einer "zivilisatorischen Inkompetenz" (Sztompka 1993) nicht halten lie-ßen, schienen die Ereignisse vor 1989 noch nicht einmal für die Analyse der Gegenwart in jenen Ländern von Belang. Es gibt jedoch (mindestens) drei gute Argumente dafür, diese Lesart von fundamentalem Bruch und nachholender Revolution kritisch zu hinterfragen und die Ereignisse in Polen vor 1989 als Prüfstein und produktive Herausforderung für die so-ziologische Theoriebildung (wieder) zu entdecken.

Erstens liegt der Diagnose einer nur "nachholenden Revolution" die Vorstellung zugrunde, dass staatssozialistische Gesellschaften nach 1989 jene Entwicklung nachholen würden, hinter der sie durch die geringere wirtschaftliche Effizienz ihrer Planwirtschaften in der Nachkriegszeit zu-rückgeblieben waren. Diese Diagnose übersieht jedoch, dass sich in eben-jener Zeit auch (die Vorstellungen von) Markt und Demokratie funda-mental verändert haben. Jüngere Analysen globaler Wandlungsprozesse identifizieren einen globalen Bruch in den 1970er Jahren (siehe beispielhaft Streeck 2013). Aus dieser veränderten Perspektive erscheinen staatssozialistische Gesellschaften trotz aller Unterschiede als Varianten derselben makrosoziologischen Prozesse. Daraus folgt nicht, dass die in mancherlei Hinsicht fundamentalen strukturellen Unterschiede zwischen beiden Ordnungsmodellen verschwinden würden, wohl aber, dass die Unterschiede klein genug scheinen, um gesellschaftliche Phänomene wie beispielsweise die kreditfinanzierte Wirtschaftspolitik der 1970er und 1980er Jahre oder die sich wandelnden Legitimationsstrategien von Regie-rungen und Protestbewegungen in sinnvoller Weise als je unterschiedliche Antworten auf dieselben globalen Herausforderungen zu analysieren. Da-mit gewinnt die Analyse von Ereignissen seit den 1970er Jahren in Ost- und Ostmitteleuropa einen anderen Stellenwert: Sie ist nicht mehr nur historisch von Interesse, sie verspricht auch Erkenntnisse über die Genese von und unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf globale Prozesse.

Zweitens hatte die Tatsache, dass der Umbruch 1989 auch für Exper-ten und Expertinnen überraschend kam, zwar zu einer kurzen Welle der Kritik an den Sozialwissenschaften geführt, nicht aber zu einer kritischen Revision der zugrunde liegenden Annahmen über die Strukturmerkmale staatssozialistischer Gesellschaften. Denn dass westliche ExpertInnen dem Staatssozialismus fälschlicherweise größere Stabilität zugeschrieben hatten, lag auch daran, dass sie das im engeren Sinne Politische über- und die Po-tenziale gesellschaftlicher Selbstorganisation unterbewertet haben (Segert 2002: 97-108). Für Polen, das nicht zuletzt wegen der starken Stellung der katholischen Kirche und der vergleichsweise gut organisierten Exilge-meinschaft(en) ohnehin eine Sonderstellung einnahm, gilt dies sicherlich in besonderem Maße. Diese Einsicht ändert wiederum nichts daran, dass die strukturellen Bedingungen für Selbstorganisation weit voraussetzungsrei-cher waren als in demokratisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaften. Sie führt jedoch dazu, dass der Unterschied zwischen beiden Gesellschaftsty-pen nicht länger als kategorialer, sondern in vielen Bereichen des Sozialen als - potenziell für die Theoriebildung interessanter - gradueller Unter-schied anzusehen ist.

Drittens scheinen die Tatsache, dass die ehemaligen Dissidenten 1989 nicht mehr nach einem Dritten Weg suchten, sondern zusammen mit den alten Eliten demokratisch gewählte Regierungen bildeten, um jene "nach-holende Revolution" zu vollenden, und die Einsicht, dass sich mindestens für die jüngeren Generationen kaum Belege für umfassende Konti-nuitäten finden ließen, nahezulegen, dass die Ereignisse vor 1989 für die Analyse der gegenwärtigen Probleme in staatssozialistischen Ländern kaum relevant sind. Dass sich weder - wie erhofft - eine Kontinuität der zivilgesellschaftlichen Ideen bei den Eliten noch - wie befürchtet - eine Kontinuität der staatssozialistischen Mentalität bei der Bevölkerung fest-stellen ließ, spricht aber nicht prinzipiell gegen die Existenz handlungs-relevanter Kontinuitäten. In jüngerer Zeit haben einzelne Studien kom-plexere Formen der Reproduktion von Ideen und Interaktionsmustern aus der Zeit des Staatssozialismus in verschiedenen Bereichen des Sozialen herausgearbeitet. Diese Studien bestreiten nicht, dass der Umbruch 1989 zu einem fundamentalen Wandel zentraler Gesell-schaftsbereiche geführt hat. Sie verdeutlichen aber, dass es für die Analy-se der Gegenwart jener ehemals staatssozialistischen Länder durchaus von Bedeutung sein kann, Phänomene vor 1989 genauer zu analysieren.

Diese drei Argumente - dass die Diagnose eines fundamentalen Bruchs 1989 etwaige Gemeinsamkeiten der Reaktion auf globale Heraus-forderungen verdeckt, dass die Rhetorik des Kalten Krieges und das Erbe einer auf das Politische im engeren Sinne fokussierenden Totalitarismus-these die trotz aller Unterschiede gegebenen Ähnlichkeiten zwischen den Systemtypen vernachlässigt, und dass die Enttäuschung über fehlende Dritte-Weg-Debatten die Suche nach Kontinuitäten erschwert hat - sind der Ausgangspunkt für das folgende Unternehmen, ein bestimmtes Rätsel aus der staatssozialistischen Vergangenheit als Prüfstein und als produk-tive Herausforderung für die soziologische Theoriebildung (wieder) zu entdecken.

Die folgenden Kapitel zielen darauf, die Frage zu beantworten, wie es in den 1970er Jahren im staatssozialistischen Polen zur Entstehung des in Deutschland wenig bekannten KOR und kurze Zeit später zur bekannten, aber bislang erstaunlich selten explizit soziologisch untersuchten Solidar-no?? kommen konnte. Ich nutze die strukturellen Unterschiede zwischen marktwirtschaftlich-demokratischen und staatssozialistischen Gesellschaf-ten, um etablierte Theorien auf die in ihnen enthaltenen Vorannahmen über soziale Prozesse zu befragen. Dabei wird sich zeigen, dass einige die-ser Vorannahmen nicht nur im staatssozialistischen Kontext problematisch sind. Ich werde alternative Erklärungen der Entstehung der beiden Protestbewegungen und der damit einhergehenden Aneignung und Reproduktion neuer sozialer Kategorien (etwa der Menschenrechte) sowie neuer sozialer Praktiken (etwa des offenen Dialogs oder der Mobilisierung durch Bewährungshandeln) vorschlagen, die auch über diesen Fall hinaus für die soziologische Theoriebildung von Interesse sind.

Im nächsten Abschnitt erörtere ich ausführlicher, warum die Analyse dieses Fallbeispiels sozialtheoretisch interessant ist (1.1). Die Einleitung schließt mit einigen Anmerkungen zu Inhalt und Aufbau der folgenden Kapitel (Abschnitt 1.2).

1.1 Das empirische Rätsel und seine Relevanz für die soziologische Theorie

Das Komitee zum Schutz der Arbeiter war am 23. September 1976 ge-gründet worden, um ArbeiterInnen zu helfen, die nach Streiks gegen Preiserhöhungen für Lebensmittel im Juni 1976 verhaftet worden waren. Aus dieser konkreten Hilfsaktion bildet sich in den folgenden Monaten eine in vielerlei Hinsicht erstaunliche Protestbewegung: Das KOR ist die erste offen agierende Protestbewegung im staatssozialistischen Polen - obwohl die AktivistInnen damit rechnen, umgehend verhaftet zu werden, veröffentlichen sie das Gründungsdokument mit vollständigem Namen, Adresse und Telefonnummer. Es ist die erste Bewegung in einem Warschauer-Pakt-Staat, in der Linke und KatholikInnen zusammenarbeiten - zwei Gruppierungen, die das Regime in allen vorherigen Protesten erfolgreich gegeneinander hatte ausspielen können. Das KOR ist von den vielen oft als zivilgesellschaftlich bezeichneten Initiativen der 1970er Jahre in Ost- und Ostmitteleuropa die einzige, die über eine "Opposition an Küchentischen" hinausgeht (Kotkin 2010: 6), denn seine AktivistInnen bezeichnen sich mit einigem Recht als "Gegen-gesellschaft" und versuchen mit einigem Erfolg, so zu leben, "als ob" sie bereits in einer Demokratie lebten (Ash 2002: 292). Dieser Anspruch kommt 1977 in der Umbenennung des Komitees in Komitee zur Selbst-verteidigung der Gesellschaft (Komitet Samoobrony Spo?ecze?stwa ›KOR‹, KSS "KOR") zum Ausdruck und manifestiert sich in der Gründung der "unab-hängigen selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarno??" (Niezale?ny Samo-rz?dny Zwi?zek Zawodowy ›Solidarno??‹) auf unerwartete Weise.

Die Geschichte dieser beiden Bewegungen ist so oft als Erfolgsge-schichte erzählt worden, dass deren Entstehung auf den ersten Blick fast als notwendige, nicht weiter erklärungsbedürftige Entwicklung erscheint. Die den folgenden Analysen zugrunde liegende pragmatistische Perspekti-ve soll helfen, den Blick für die Kontingenzen der Ereignisse zu schärfen. Der Pragmatismus dient der Analyse dabei zunächst als eine Art "natura-listische soziale Ontologie" (Katz 2002c: 255). Während Theorien tenden-ziell "stratifizieren", also vorab definieren, welche Faktoren entscheidend sind oder welche Wechselwirkungen es zwischen diesen Faktoren geben kann, zielt eine "naturalistische soziale Ontologie" darauf, eine angemesse-ne Beschreibung des Phänomens zu ermöglichen, indem sie möglichst viele Dimensionen benennt, die von Bedeutung sein können.

Der Vorteil einer pragmatistischen Herangehensweise besteht darin, dass sie das Wechselspiel von Strukturen und Handeln in den Blick neh-men kann, Stabilität und Kontingenz des Sozialen zu analysieren vermag. Im Unterschied zu strukturtheoretischen Ansätzen (und dem Gros der sozialwissenschaftlichen Forschung vor 1989) läuft sie nicht Gefahr, die Stabilität des Staatssozialismus überzubewerten, weil ihr Strukturen als prinzipiell wandelbare Regelmäßigkeiten des Handelns gelten, die nur so lange stabil sind, wie die sozialen Prozesse, die sie aufrechterhalten, repro-duziert werden. Im Unterschied zur Modernisierungstheorie unterstellt sie keine Teleologie sozialen Wandels. Im Unterschied zur Luhmannschen Systemtheorie, die sich auf eine Beschreibung von Kommunikation be-schränkt, kann sie Wandel auf Interaktion zurückführen. Im Unterschied zu Bourdieus Theorie sozialer Praktiken läuft sie nicht Gefahr, Verände-rungen auf Distinktionskämpfe zwischen sozialen Gruppen zu reduzieren. Die pragmatistische Soziologie verfügt jedoch trotz ihrer langen Tradition nur über wenige ausgearbeitete theoretische Konzepte, um dieses Wech-selspiel zwischen Strukturen und Handeln, Stabilität und Kontingenz an-gemessen zu erklären. Die vorliegende Analyse zielt darauf, in Auseinandersetzung mit dem empirischen Rätsel Erklärungen zu generieren, die ihrerseits zur Weiterentwicklung pragmatistischer Theorien beitragen.

Die unwahrscheinliche Entstehung jener beiden Protestbewegungen ist aber nicht nur für die pragmatistische Soziologie von Interesse. Sie ist in vier wieteren Hinsichten für die soziologische Theoriebildung instruktiv. Die Osteuropaforschung hatte dem Staatssozialismus - noch immer be-einflusst vom Narrativ der Totalitarismusthese mit seiner Fixierung auf politische Strukturen im engeren Sinne - kaum innere Wandlungsfähigkeit zugeschrieben. Die Lösung des Rätsels, wie KOR und Solidarno?? ent-standen sind, ist somit erstens ein Beitrag zur Totalitarismusdebatte, weil sie zeigt, dass und wie Selbstorganisation auch innerhalb sogenannter tota-litärer Regime funktioniert hat (Abschnitt 1.1.1).

Zweitens fordern KOR und Solidarno?? die Protestforschung heraus, weil der strukturell andere staatssozialistische Kontext zentrale Annahmen problematisch werden lässt, die den etablierten Theorien aus der Protest-forschung zugrunde liegen. Das liegt zum Teil sicherlich daran, dass diese Theorien meist am Beispiel von Bewegungen in marktwirtschaftlich-de-mokratischen Ländern entwickelt worden waren und schon deshalb nicht umstandslos auf Bewegungen in staatssozialistischen Gesellschaften über-tragen werden können. Die Probleme, die sich bei der Übertragung ergeben, verweisen jedoch auf den Einfluss von bislang zu wenig beachteten Prozessen, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch in demokratisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaften von Bedeutung sind. Political process theories, die als spezifische Ausprägung der mittlerweile häu-fig kritisierten Theorie rationalen Handelns angesehen werden können, unterstellen explizit oder implizit, dass "BewegungsunternehmerInnen" auf einem Markt konkurrieren. Die Metapher des Bewegungsmarktes führt dazu, dass nur bestimmte Faktoren des Mobilisierungsprozesses überhaupt untersucht, andere wie etwa die Deutung und die Konstitution von Akteuren als gegeben unterstellt werden. Collective-identity-Theorien fokussieren die Konstruktion "geteilter Handlungssysteme" (Melucci 1999: 115) und gehen dabei meist von der Existenz einer unabhängigen Öffentlichkeit aus, in der Bewegungen präsent sind, alternative Weltdeutungen diskutiert werden können. Das führt beispielsweise dazu, dass Prozesse der Vertrauensbildung nicht genau genug untersucht werden (siehe Abschnitt 1.1.2).

Das Fallbeispiel ist drittens zugleich ein Beitrag zur Revision des Säku-larisierungsmythos in der Soziologie: Es trägt zur Korrektur des pro-testantischen Bias der Soziologie und zur Revision des gängigen Narrativs der entwicklungshemmenden Rolle des Katholizismus für Prozesse der Modernisierung bei (vgl. Casanova 1994; Knöbl 2001; Joas 2011), indem es die Bedeutung des Katholizismus für den lokalen Aneignungsprozess eines menschenrechtlichen Ethos herausarbeitet. Es zeigt dabei zugleich, gegen eine allzu einfache Gleichsetzung des Polnischen mit dem Katho-lischen, dass katholische Laiengruppen sich dieses Ethos wesentlich in Konflikt mit dem Klerus angeeignet haben, und dekonstruiert jene im öf-fentlichen Diskurs vor allem zu den Jahrestagen präsenten Erzählungen, die katholische Kirche habe im Verlauf der Protestereignisse eindeutig auf Seiten der politischen Opposition gestanden oder sei gar der entscheiden-de Akteur für die Entstehung jener Opposition gewesen - eine ebenfalls selektive Konstruktion, die der weit komplexeren sozialen Wirklichkeit nicht entspricht (Abschnitt 1.1.3).

Viertens ist die Analyse von KOR und Solidarno?? ein Beitrag zur Weiterentwicklung einer jüngst verstärkt eingeforderten, kontingenzsensi-blen Soziologie der Menschenrechte (Joas 2011). Im Unterschied zu weltgesellschaftlichen Ansätzen, die ihre Verbreitung als Teil einer welt-kulturellen Trias von Demokratie, Markt und Menschenrechten ansehen und zur Systemtheorie, die Grundrechte und die Semantik der Menschen-rechte als sozial integrierendes Element funktional differenzierter Gesell-schaften analysiert, analysiere ich die lokale Aneignung von Menschenrechten als kontingenten, potentiell kreativen Prozess. Im Unterschied zu Joas, der eine affirmative Genealogie der großen Ereig-nisse in der Geschichte der Aneignung von Menschenrechten unter-nimmt, zielt die folgende Analyse auf eine kleinschrittige mikrosoziologi-sche Analyse dieses lokalen Aneignungsprozesses und dessen Folgen. Sie deckt auf, dass es sich im polnischen Fall weder um eine nur nachholende Entwicklung noch um einen bloß strategischen Bezug auf Menschenrech-te und Menschenwürde handelt, sondern um zwei, im Falle von KOR und Solidarno?? nur äußerlich ähnliche Prozesse, die sich unterschiedli-chen Situationstypen verdanken und zur Aneignung eines je eigenen Men-schenrechtsverständnisses führen, das wiederum je spezifische strukturelle Veränderungen nach sich zieht (Abschnitt 1.1.4).

1.1.1 Zur sozialtheoretischen Fundierung der Totalitarismusdebatte

Der wohl bekanntesten Definition von Carl J. Friedrich (1945: 47-60) zufolge sei der Totalitarismus durch eine Ideologie mit chiliastischen Ele-menten, eine Massenpartei, ein fast vollkommenes Monopol der Kon-trolle über alle entscheidenden Kampf- und Massenkommunikations-mittel, und ein System terroristischer Polizeikontrolle charakterisiert. Spä-ter wurde als sechstes Kriterium die staatliche Lenkung der Wirtschaft hinzufügt (Friedrich/Brzezinski 1956). Noch enger fasst Hannah Arendt den Totalitarismus in ihrem Buch Die Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Sie postuliert, dass das Wesen, die Struktur der totalitären politischen Ordnung der Terror sei und das diese Ordnung tragende, das Handeln motivierende Prinzip die Ideologie (1955: 710f.). Ihre Überlegun-gen zum totalitären Charakter von Nationalsozialismus und Stalinismus beruhen auf einer Analogiebildung: Sie übertrug Einsichten über den NS auf die 1920er bis 1940er Jahre in der Sowjetunion.

Die "Totalitarismusthese" wurde früh kritisiert. Bei Arendt, weil sie sie nicht durch (genügend) Daten belegen konnte; bei Arendt und Friedrich - unter anderem nach den jugoslawischen Entwicklungen und der Entwick-lung der russisch-chinesischen Beziehungen -, weil die Beschreibung staatssozialistischer Herrschaft als totalitäre nichts dazu beitragen konnte, deren Variabilität zu erklären. Dadurch gewann die Modernisierungstheorie gegenüber der Totalitarismusthese in Wissenschaft und Politik an Bedeutung. Deren Ausgangspunkt war die Einsicht, dass auch kommunistische Gesellschaften den sozioökonomi-schen Funktionserfordernissen moderner Industriegesellschaften genügen müssen. Damit rückte nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Politik in den Fokus der Forschung zum Staatssozialismus, denn von nun an ging man davon aus, dass auch staatssozialistische PolitikerInnen auf ökonomische Ent-wicklungen interessengeleitet und in gewissem Maße korporatistisch reagieren würden (Bunce/Echols 1980).

Trotz der frühen Kritik hat die Totalitarismusthese aber dazu geführt, den westlichen Blick auf den Staatssozialismus wie auch das eigene, westli-che Selbstverständnis bis weit in die 1960er Jahre hinein vor allem als po-litische Ideologie zu fassen und das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in den totalitären Staaten vor allem unter Rückgriff auf politische Verlautbarungen und deren mögliche Subtexte (verwiesen sei hier exem-plarisch auf die sogenannte "Kremllogie") zu analysieren.

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