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Geschlechtergeschichte

Geschlechtergeschichte

vonOpitz-Belakhal, Claudia
Deutsch, Erscheinungstermin 07.09.2018
lieferbar

eBook

19,99 €
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Buch (broschiert)

22,00 €
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Informationen zum Titel

978-3-593-44008-8
Frankfurt
07.09.2018
2018
2
2. Auflage
eBook
PDF mit digitalem Wasserzeichen
231
Frankfurt
Deutsch
Inhalt
1. Einleitung 9
2. Von der Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte 12
2.1 Gender - eine (macht-)analytische Kategorie 13
2.2 Kritik der Kategorie "Geschlecht": Erfahrung vs. Diskurs 20
2.3 Geschlecht als Markierung und tracer 24
2.4 Von gender zur queer theory 25
2.5 Doing gender - Geschlecht als Praxis 29
2.6 Narrating gender 32
2.7 Staging gender 35
2.8 Intersektionalität 36
2.9 (K)Ein gender turn? 39
3. Weiblich - männlich? Geschlechterbilder und Geschlechterordnungen im Wandel 42
3.1 "Natur" und "Kultur" der Geschlechter 43
3.2 Männliche (Natur-)Wissenschaften? 48
3.3 Vom Ein- zum Zwei-Geschlechter-Modell 50
3.4 Universität und Wissenschaften ohne Frauen? 52
3.5 Geschlechtersymbole und ihre (Be-)Deutungen 55
3.6 Geschlechtsidentitäten im Wandel 59
3.7 Kritik des Geschlechterrollen-Konzepts 61
4. Klasse, Stand und Geschlecht 64
4.1 Frauen als (ausgebeutete) "Klasse"? 65
4.2 Von der Frauen(erwerbs)arbeit zum "Wirtschaften mit der Geschlechterordnung" 75
4.3 Geschlechtergeschichte der Ökonomie 82
4.4 Geschlecht und materielle Kultur 84
5. Nation, Ethnizität und Geschlecht 86
5.1 Race, class und gender 87
5.2 Vom Antisemitismus zur jüdisch-deutschen Geschichte 89
5.3 Nation, Nationalismus und Geschlecht 92
5.4 Ethnizität und Geschlecht in postkolonialen Kontexten 97
5.5 Geschlechtergeschichte und Globalgeschichte 101
6. Öffentlich vs. privat? 106
6.1 Wider die Dichotomie "öffentlich - privat" 107
6.2 Öffentlichkeit(en) und die "Ordnung der Geschlechter" 113
6.3 Geschichte des (Nicht-)Privaten: Ehe, Haushalt und Familie 117
6.4 Geschichte der Sexualität(en) 125
7. Vom weiblichen Widerstand zur Politik der Geschlechter 131
7.1 Geschichte der Frauenbewegungen und des Feminismus 132
7.2 Kontinuität oder Kontingenz des Feminismus? 135
7.3 Querelle des femmes als (Proto-)Feminismus? 139
7.4 Weibliche Macht und "Listen der Ohnmacht" 143
7.5 Politikgeschichte als Geschlechtergeschichte 146
7.6 Militärwesen, (staatliche) Gewalt und Geschlecht 154
8. Das Geschlecht der Geschichte 156
8.1 Männliche Geschichtsschreibung? 156
8.2 Verwissenschaftlichung als Vermännlichung der Geschichte 171
8.3 Geschlechtergeschichte und "Allgemeine Geschichte" 174
8.4 Periodisierungen in der Geschlechtergeschichte 185
Nachwort zur 2. Auflage 190
Auswahlbibliographie 198
Sachregister 228
Die Geschlechtergeschichte ist aus der historischen Forschung und Lehre nicht mehr wegzudenken. Sie verdankt viele Anregungen der Sozialgeschichte, hat sich aber auch neueren Entwicklungen, etwa der Historischen Anthropologie und der Neuen Kulturgeschichte, geöffnet und die dort geführten Diskussionen mit geprägt. Claudia Opitz- Belakhal legt in diesem Band den Fokus auf die Debatten um Konzepte und Methoden der Geschlechtergeschichte, auf die Auseinandersetzungen um die Kategorie "Geschlecht" sowie auf die Geschichte der Geschlechterrollen und der Sexualität.
"Eine Einführung in die Geschlechtergeschichte (...), die nicht nur EinsteigerInnen Orientierung gibt, sondern auch für diejenigen, die Geschlechterforschung betreiben, neue Einblicke in bzw. Sichtweisen auf die feministischen Debatten der letzten drei Jahrzehnte vermittelt."
Zeitschrift für Sexualforschung
Claudia Opitz-Belakhal ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit in Basel.
1. Einleitung
Die Geschlechtergeschichte hat sich in den 1980er und 1990er Jahren aus der sogenannten "Frauengeschichte" heraus entwickelt. Sie kann mittlerweile auf eine jahrzehntelange, erfolgreiche Entwicklung zurückblicken, die zur Institutionalisierung von entsprechenden Studiengängen und Professuren im In- und Ausland sowie zu einer unübersehbaren Fülle von Einzelstudien und Gesamtdarstellungen geführt hat. Sie versteht sich weniger als eine neue Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, sondern ist von ihrer Entstehungsgeschichte her dem Anspruch verpflichtet, "die Geschichte umzuschreiben" - und damit auch die geschichtliche Traditionsbildung und die geschichtswissenschaftliche Methodenlehre in ihrer ganzen Breite zu kritisieren und zu reformieren. Es gibt deshalb praktisch keinen Themenbereich, der von geschlechtergeschichtlichen Forschungen nicht (an-)diskutiert und kritisch durchleuchtet wurde; kein theoretisches Problem, das in der Geschlechtergeschichte nicht mit durchdacht und problematisiert wurde. Dieser Anspruch macht es schwer, mit einem Einführungswerk zu suggerieren, es gäbe einen verbindlichen Wissenskanon der Geschlechtergeschichte.
Zudem ist die Geschlechtergeschichte interdisziplinär angelegt. Sie bezieht Anregungen aus vielen Disziplinen und Theorien - von der Ethnomethodologie bis zur Sprachphilosophie, vom Marxismus bis zur Psychoanalyse. Sie ist der Sozialgeschichte und der "historischen Sozialwissenschaft" eng verbunden, hat sich vor allem aber neueren methodisch-theoretischen Entwicklungen geöffnet, wie etwa der "Historischen Anthropologie" oder der "Neuen Kulturgeschichte", und sie hat die dort geführten Debatten teilweise federführend mitbestimmt. Und schließlich ist die Geschlechtergeschichte ein internationales Projekt, dessen nationale Standorte zwar deutlich markiert sind, das aber sehr häufig durch internationale Debatten (insbesondere im angloamerikanischen Raum) angeregt und vorangetrieben wird.
Diese Verknüpfung mit vielen Diskussionen und Problemfeldern innerhalb und außerhalb der Geschichtswissenschaft macht es zu einer erheblichen Herausforderung, knapp und informativ in die Geschlechtergeschichte einzuführen, zumal dann, wenn sie gleichzeitig epochenübergreifend angelegt sein soll. Um diese Herausforderung bewältigen zu können, lege ich in dieser Einführung den Akzent auf die methodologischen Debatten, die die verschiedenen Epochen und historischen Teilgebiete in unterschiedlicher Weise betroffen haben oder betreffen. Dabei stellt die deutschsprachige Diskussion einen Schwerpunkt dar, der aber ständig durch den Blick auf angloamerikanische und europäische Diskussionen ergänzt und korrigiert wird. Auch kann und will ich meine wissenschaftliche Heimat in der (europäischen) Geschichte der Frühen Neuzeit nicht verleugnen, die mich immerhin befähigt, über die Grenzen der Moderne hinaus auf das weite Feld der "Vormoderne" zu blicken. Dies macht es möglich, einige (Vor)-Urteile der modernen Geschichtsforschung wie der Frauenbewegung in Frage zu stellen und dagegen neue Forschungsperspektiven aufzuzeigen, wenn auch viele spannende Debatten und Forschungsergebnisse im Bereich der Geschichte des Altertums und des Mittelalters wie aber auch in der Geschichte außereuropäischer Regionen leider nicht berücksichtigt werden konnten.
Im Folgenden werden wichtige Problemstellungen der Geschlechtergeschichte in ihrer Entwicklung und ihren Ergebnissen jeweils knapp präsentiert. Entlang zentraler Begriffe und Konzepte werden Forschungsdiskussionen und Ergebnisse der Geschlechtergeschichte (auch) epochenübergreifend dargestellt. Da alle hier behandelten Teilaspekte einer kritischen geschlechtergeschichtlichen Praxis eng miteinander verbunden sind, ließen sich einige Überschneidungen hie und da nicht vermeiden. Querverweise sollen andererseits sicherstellen, dass Zusammenhänge, die durch die systematische Darstellungsweise auseinanderdividiert werden mussten, nicht verloren gehen. Aufgrund der methodologisch-theoretischen Ausrichtung dieser Einführung finden sich hier keine Überblicke zu Themen wie "Frauen in der Antike" oder "Geschlechterbeziehungen im Mittelalter", sondern die entsprechenden Forschungsergebnisse sind den systematischen Fragestellungen zugeordnet - was im Übrigen auch für Themen wie "Ehe" oder "Frauenarbeit" und "geschlechtsspezifische Arbeitsteilung" gilt. Hilfestellung bei der Suche nach solchen Themen gibt auch das Schlagwortverzeichnis am Ende des Buches.
Es ist unmöglich, die geschlechtergeschichtliche Forschung in ihrer ganzen Breite angemessen zu präsentieren, und vieles wird hier infolgedessen nur knapp angerissen oder gar nicht berücksichtigt. Dies gilt namentlich für die Erforschung außereuropäischer Kulturen und Ereigniszusammenhänge, aber auch für den gesamten nord- und osteuropäischen Raum, weil mir dafür die sprachlichen Kompetenzen fehlen. Auch die "Geschichte der Männlichkeiten", die meines Erachtens nach ein integraler Bestandteil der Geschlechtergeschichte ist, für die es aber aktuelle Einführungen gibt (vgl. Martschukat/Stieglitz 2018), wird nur knapp abgehandelt; allerdings finden sich in praktisch allen Kapiteln Überlegungen und Darstellungen, die für die Geschichte der Männlichkeiten von Bedeutung sind.
2. Von der Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte
Die Geschlechtergeschichte ging aus der "historischen Frauenforschung" oder "Frauengeschichte" (amerikanisch "her-story" - als Gegensatz zu "history" als "his-story") hervor, die im Rahmen der Neuen Frauenbewegung zu Beginn der 1970er Jahre entstand und deren Zielen verpflichtet war: Aufdecken der Unterdrückung von Frauen in Vergangenheit und Gegenwart und Aufzeigen von Befreiungspotentialen für die Zukunft (vgl. Opitz-Belakhal 2008). In dem Maß, wie dank der "Frauengeschichte" Wissenslücken über Frauen in der Geschichte gefüllt wurden, konnte sich der Blick inhaltlich wie vor allem auch methodisch ausweiten. Die ersten Forschungen waren insbesondere der "weiblichen Erfahrung" in der Vergangenheit und, damit verbunden, der Geschichte "frauenspezifischer" Bereiche, wie Familie, Reproduktion, Mutterschaft, aber auch Frauenarbeit und Frauenbewegung usw. gewidmet gewesen. Doch Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre wurde es als zunehmend unbefriedigend empfunden, dass "klassisch männliche" Bereiche, wie etwa Staat und Öffentlichkeit, Politik, Krieg und Militärwesen, bislang kaum berücksichtigt worden waren und damit zentrale Rahmenbedingungen weiblichen Lebens und Handelns unterbelichtet blieben.
Infolgedessen verlagerten sich die Forschungsinteressen der hier engagierten Frauen (und wenigen Männer) in Richtung auf die "Geschlechtergeschichte". Diese bedeutete nicht nur eine Erweiterung im Hinblick auf die "Männergeschichte", sondern brachte aucheine grundlegende methodologische Neuorientierung. Diese Neuausrichtung ist mit anderen innerwissenschaftlichen Entwicklungen, zum Beispiel mit der Öffnung der Sozialgeschichte hin zur "Neuen Kulturgeschichte" oder der "Historischen Anthropologie", eng verbunden. Die Entwicklung führte damit von einer stark sozialgeschichtlich orientierten "Frauengeschichte", deren Gegenstand klar definiert ("Frauen als [unterdrückte] soziale Gruppe") und deren Anliegen deutlich umrissen waren ("Unterdrückung deutlich machen und damit zu ihrer Beendigung beitragen"), hin zur Geschlechtergeschichte. Deren Gegenstand ist viel offener und weiter ausgreifend definiert: Sie untersucht Geschlechterbeziehungen in allen denkbaren historischen Gesellschaften, "geschlechtlich markierte" Herrschaftsverhältnisse und Hierarchien in jeder Epoche, an jedem denkbaren historischen Ort, in jedem historischen (Teil-)Gebiet. Ihr Anliegen reicht vom Nachweis geschlechtlicher Unterdrückung über die Logiken des gendering bis hin zur Dekonstruktion von gesellschaftlichen Ein- und Ausgrenzungsprozessen, soweit sie geschlechtlich motiviert oder codiert sind. Sie nähert sich damit all jenen Ansätzen an, die wir heute mit den US-amerikanischen Begriffen queer, diversity oder intersectionality bezeichnen. Im Folgenden seien die wichtigsten Stationen und Ergebnisse dieser Entwicklung knapp dargestellt.
2.1 Gender - eine (macht-)analytische Kategorie
Während Joan Kelly-Gadol 1976 noch von den "social relations of the sexes" als zentralem Gegenstand feministischer Geschichtsforschung schreiben konnte (vgl. Kelly-Gadol 1989b), dekretierte Gerda Lerner 1984 die Abtrennung des Biologischen vom Sozialen als Selbstverständlichkeit der feministischen Forschung: "Biologisches Geschlecht (sex) ist eine Tatsache, gesellschaftliches Geschlecht (gender) ist eine historische und kulturbedingte Schöpfung" (Lerner 1984: 406). Sex bezog sich demnach auf "physische Attribute", die anatomisch und physiologisch determiniert gedacht wurden. Gender dagegen wurde als die Summe der psychologisch bzw. gesellschaftlich bestimmten Normen und Vorstellungen verstanden. Die Soziologin Ann Oakley sprach von sex als einer biologischen Größe, der gegenüber gender "a matter of culture" darstelle. Gender beziehe sich auf soziale Klassifikationen in "männlich" und "weiblich". Sex sei unveränderlich, gender hingegen variabel (vgl. Griesebner 2003: 43).
Diese begriffliche Unterscheidung von sex und gender erschien lange Zeit als plausibler Ansatz, um den realen Geschlechterverhältnissen und der gesellschaftlichen Konstruktion von Weiblichkeit(en) und Männlichkeit(en) auf die Spur zu kommen. Dennoch zeigte die Forschungspraxis, dass die theoretisch postulierte Abtrennung von sex und gender erhebliche Probleme mit sich brachte. Den empirischen Arbeiten lag nämlich unausgesprochen die Annahme zu Grunde, dass das historisch variable Geschlecht (gender) immer und überall an einen von Natur aus eindeutig vergeschlechtlichten Körper gebunden sei und man infolgedessen weibliches und männliches Handeln, weibliche und männliche (Gruppen-)Identität klar unterscheiden könne. Das stärkte zwar einerseits die Einheit der Frauengeschichte, andererseits führte es aber zu einer Fortschreibung des Dualismus von Natur und Kultur, jener "alten Scheidelinie zwischen vermeintlich Vorgegebenem und Gemachtem, Unveränderbarem und Veränderbarem" (Klinger 2000, zit. n. Griesebner 2003: 43; vgl. auch Kap. 3).
Werden Handlungen von Frauen interpretiert, ohne die vergeschlechtlichenden Konstruktionsprozesse zu analysieren, die ihnen zu Grunde liegen, so bleiben die Ergebnisse darauf beschränkt zu beschreiben, was Frauen historisch jeweils zugestanden (oder auch: angetan) wurde. Ungewollt leisten Historikerinnen und Historiker damit einen Beitrag zur Naturalisierung der Geschlechterdifferenz - und dies zu einer Zeit, da soziobiologische Erklärungen für gesellschaftliche Phänomene und Probleme auf dem Vormarsch sind (vgl. Griesebner 2003; Wiesner-Hanks 2001).
Dagegen hatte schon 1981 Gianna Pomata argumentiert, die in der "Naturalisierung" bzw. "Biologisierung" der weiblichen Lebensbereiche und -erfahrungen eine spezifische Ausgrenzungsstruktur der Geschichtsschreibung erkannte. Frauen waren ihrer Meinung nach "das Primitive im Eigenen", das durch Biologisierung enthistorisiert wurde (Pomata 1983; ital. Original 1981). Noch schärfer kritisierte 1988 Gisela Bock dieses dichotomische Konzept von sex und gender. Die Abtrennung einer biologischen von einer sozialen Kategorie bewirke, dass Erstere gegenüber der Letzteren eine scheinbare Objektivität erhalte und damit die Ausgrenzung und Abwertung dessen, was mit "Weiblichkeit" assoziiert werde, noch verstärke. Dass Biologie keineswegs etwas "natürlich" Gegebenes ist, sondern selbst "eine genuin soziale Kategorie mit einem genuin sozialen Sinnzusammenhang", ist für Bock evident. Zudem sei das Biologische vor allem weiblich konnotiert. Auf "biologische" Gegebenheiten werde im allgemeinen nur im Hinblick auf Frauen Bezug genommen. Biologie sei damit keine objektiv-neutrale Kategorie, sondern ein auf Frauen bezogener Wertbegriff, "genauer: eine Metapher für ›Minderwertigkeit‹" (Bock 1988).
Die Auflösung der Trennung von sex und gender erfolgte dennoch erst Ende der 1980er Jahre, als Joan Scott mit ihrer Definition eine grundlegende Kritik, aber auch neue Anknüpfungspunkte für die Frauen- und Geschlechtergeschichte lieferte. Ihre Neudefinition von gender ermöglicht eben jene Analyse der Konstruktion von Geschlecht, die sowohl sex wie gender umfasst. Auch sex, das biologische Geschlecht, wird hier als Effekt eines kulturellen Konstruktionsprozesses verstanden und geht insofern im sozialen Geschlecht (gender) auf. In ihrem Aufsatz "Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse" kritisiert Scott die in der feministischen Forschung ihrer Meinung nach zu starke Betonung der Zweigeschlechtlichkeit und deren vermeintliche Unveränderlichkeit. Sie setzt ihr eine Perspektive entgegen, die "die Festschreibung des binären Gegensatzes von Mann und Frau als der einzig möglichen Beziehung" aufhebt (Scott 1994: 48). Dafür schlägt sie eine doppelte Definition von gender vor, die eine Öffnung der feministischen (nicht nur) historischen Forschung und ein erhöhtes Maß an Reflexivität ermöglichen soll:
"Gender ist ein konstitutives Element von gesellschaftlichen Beziehungen und gründet auf wahrgenommenen Unterschieden zwischen den Geschlechtern, und gender ist eine grundlegende Art und Weise, Machtbeziehungen zu bezeichnen. Veränderungen in der Organisation sozialer Beziehungen entsprechen immer auch Veränderungen in der Repräsentation von Herrschaft, aber die Richtung des Wandels kann variieren" (Scott 1994: 48).
Scott verwirft also die Idee einer "biologischen" oder auch "natürlichen" (Zwei-)Geschlechtlichkeit und betont die Bedeutung der "Wahrnehmung" von Unterschieden. Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind nicht einfach da, sondern sie entstehen, so Scott, durch "Wahrnehmung" und "Repräsentation" bzw. durch Sprache und Diskurse. Diskurse sind ihrer Auffassung nach, Foucault folgend, durch Machtverhältnisse kontrollierte und bestimmte Rede- und Denkweisen. Nicht genetische, hormonelle oder anatomische Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind demnach ursächlich für Rollenbilder und Selbstwahrnehmung und für soziale Hierarchien und Ausschlussmechanismen verantwortlich, sondern die Schlussfolgerungen, die aus solchen Unterschieden gezogen werden. Diese interessieren deshalb auch die Geschlechterforschung ganz besonders.
Auf diese Weise verankert Scott die Kategorie gender/"Geschlecht" gleichzeitig in der Allgemeinen Geschichte und definiert sie als ein zentrales Moment aller denkbaren Herrschaftsbeziehungen - also sowohl zwischen Männern und Frauen, als auch zwischen Ethnien, Staaten oder anderen gesellschaftlichen Institutionen und Gruppierungen.
Wie lässt sich nun gender?/?"Geschlecht" praktisch erfassen und damit auch erforschen? Scott gibt dafür wiederum "vier miteinander verbundene Elemente" an, an denen sich Geschlechterbeziehungen und -ordnungen festmachen lassen: Das erste Element bilden "kulturell verfügbare Symbole, die eine Vielzahl von Repräsentationsformen erzeugen" - zum Beispiel Eva und Maria als Symbole der Frau in der westlichen christlichen Tradition, aber auch Mythen des Lichts und des Dunkels, der Reinheit und Verschmutzung, Unschuld und Korruption etc., die den Geschlechtern zugeordnet werden. Das zweite Element bilden normative Konzepte, die Interpretationen dieser Symbole vorgeben bzw. solche, "die versuchen, metaphorische Möglichkeiten einzugrenzen und zu limitieren" - einschließlich der konflikthaften Auseinandersetzungen um Deutungsmöglichkeiten und -grenzen. So kann Maria durchaus als wichtigste Heilige, aber eben nicht als "Göttin" bezeichnet und betrachtet werden, ohne entsprechende Sanktionen seitens der katholischen Kirche hervorzurufen.
Das dritte Element ist die Dimension des Politischen, das heißt die Bezüge von gender zu gesellschaftlichen und politischen Institutionen und Organisationen. So werden zum Beispiel in der Politischen Theorie der Frühen Neuzeit Herrscherfiguren als "Ehemänner" ihres Landes oder als Väter ihrer Untertanen tituliert und damit alle, Herrscher wie Länder und Untertanen, geschlechtlich "markiert" und ihre Beziehung zueinander als hierarchisch festgeschrieben (der Ehemann rangiert vor der Ehefrau, der Vater vor den Kindern).
Die vierte Dimension ist die subjektive Identität der historischen Akteurinnen und Akteure, die ihrerseits via Sozialisation, Normen, Repräsentationen usw. geprägt bzw. "konstruiert" ist und entsprechende Wahrnehmungen und Verhaltensweisen hervorbringt (Scott 1994: 52-55).
Subjektivität oder subjektive Identität geht zurück auf den Begriff Subjekt, der seit der Aufklärung als Ausgangspunkt von Erkenntnis der Individuen verstanden wird. Subjektivität ist demzufolge die Bedingung, aber auch die Begrenzung von Erkenntnisfähigkeit im Subjekt, das von seiner Umwelt und äußeren Bedingungen abhängig ist. Identität ist demzufolge die Summe von subjektiver Befindlichkeit, Welt- und Selbstsicht. Die Geschlechtsidentität wird durch Geschlechternormen und -diskurse geprägt, ist aber, wie die Subjektivität auch, historisch wandelbar und individuell unterschiedlich ausgeprägt. Nach Scotts gender-Konzept lassen sich deshalb auch nicht einfach weibliche und männliche Subjektivität(en) und Identität(en) unterscheiden, sondern es geht vor allem darum, die jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen für Identitätsbildung und Sujektivität(en) in den jeweiligen Diskursen herauszuarbeiten. Daneben spielt auch die Frage eine zentrale Rolle, wie Geschlechtsidentitäten Wahrnehmungen, Erfahrungen und Handlungen von Individuen beeinflussen.
In Scotts gender-Konzept lassen sich Differenzen und Hierarchien aller Art integrieren, also auch ethnische, nationale, sexuelle oder sonstige. Die Geschlechterforschung erweitert damit ihr Forschungsfeld erheblich. Herrschaftsverhältnisse werden allerdings kaum mehr als "materielle" Ausbeutung von Menschen, sondern in erster Linie als Dominanz über "kulturell verfügbare Symbole" und Repräsentationsformen - und gegebenenfalls in zweiter Linie, über bzw. von Institutionen und Organisationen - verstanden. Die Dominanz der Sprache als Repräsentationssystem ist in diesem Forschungsansatz unübersehbar, die Beziehungen und Handlungen bzw. Handlungsmöglichkeiten von Individuen (beiderlei Geschlechts) verschwinden dagegen praktisch hinter den Kulissen der Repräsentationen und Diskurse. Das hat Scott auch sofort ernstzunehmende Kritik und energischen Widerspruch eingebracht, vor allem von solchen Forscherinnen, die weibliche Identität und Erfahrung (von Unterdrückung) und weiblichen Widerstand bzw. weibliche Handlungsmöglichkeiten (agency) in der Vergangenheit untersuchten. So kritisierte Laura Lee Downs die dekonstruktivistische Methodik Joan Scotts, diese setze Wahrheit und Geschichte, textliche und soziale Beziehungen in eins. Das wenig überraschende Ergebnis von all dem sei, dass sich Scott mehr für gender als eine Metapher der Macht als für gender als eine gelebte und labile soziale Beziehung interessiere (Downs 1993). Damit hat sie durchaus recht, wenn man allein Scotts gender-Definition hernimmt, wo die subjektive Seite des Forschungsprogramms, also die Frage nach Subjektivität, Geschlechtsidentität und weiblichen oder männlichen kollektiven Erfahrungen nur einen ganz geringen Teil ausmacht gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen, den "Bildern" bzw. dem Kampf um Repräsentationen und Definitionsmacht, denen wesentlich mehr Aufmerksamkeit zukommt.
Andererseits hat Joan Scott selbst über die Geschichte des Feminismus und über feministische Akteurinnen geforscht und dabei auch intensiv über Subjektivität, Identität und agency nachgedacht. In einem 1983 erstmals publizierten Aufsatz wies sie auf die Probleme hin, die aus einer solchen Forschungsorientierung erwachsen:
"Es erscheint offensichtlich, dass es einer Vorstellung von der Eigenart und Besonderheit aller menschlichen Subjekte bedarf, wenn man Frauen als historische Akteure begreifen will. Historikerinnen können nicht einen einzelnen, universellen Repräsentanten für die verschiedenen Gruppen in jeder Gesellschaft oder Kultur verwenden, ohne der einen Gruppe besondere Bedeutung gegenüber einer anderen zuzuschreiben. Besonderheit wirft jedoch Fragen nach kollektiven Identitäten auf sowie danach, ob alle Gruppen jemals die gleiche Erfahrung teilen können." (Scott 1993: 50)
Es muss also vielmehr gefragt werden: "Wie werden Individuen Mitglieder gesellschaftlicher Gruppen? Wie werden Gruppenidentitäten definiert und gebildet? Was bringt Menschen dazu, als Mitglieder einer Gruppe zu handeln? Sind Prozesse der Gruppenidentifikation allgemein oder variabel? Wie bestimmen diejenigen, die durch mehrfache Unterschiede gekennzeichnet sind (schwarze Frauen oder Arbeiterinnen, Lesben der Mittelschicht oder schwarze lesbische Arbeiterinnen) den Vorrang der einen oder der anderen Identität? Können diese Unterschiede, die zusammengenommen die Bedeutungen der individuellen und kollektiven Identitäten ausmachen, historisch begriffen werden?" (ebd.)
Scotts Ansicht nach muss historische Forschung die allgemeinen bzw. strukturellen Bedingungen individueller (geschlechtlicher) Identitätsbildung und Subjektivität untersuchen und herausarbeiten, also die Bedingung der Möglichkeit weiblichen Handelns in den Mittelpunkt der Untersuchung rücken. Sie darf nicht eine fixe "weibliche" oder "männliche", "lesbische", nationale oder ethnische Identität einfach voraussetzen. Dennoch spielt nach Scott bei diesem Identifikationsprozess die Geschlechtszugehörigkeit die primäre Rolle:
"Der Begriff ›Geschlecht‹ deutet an, dass Beziehungen zwischen den Geschlechtern ein primärer Aspekt sozialer Organisation sind (anstatt eine Folge von, etwa, ökonomischem oder demographischem Druck), dass männliche und weibliche Identitäten weitgehend kulturell festgelegt werden (nicht von Individuen oder Gruppen jeweils eigenständig definiert werden) und dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern hierarchische Gesellschaftsstrukturen bilden und umgekehrt, Hierarchien die Beziehungen zwischen den Geschlechtern bestimmen" (Scott 1993: 49?f.).
Mittlerweile hat sich der auf Scott zurückgehende Begriff von gender/"Geschlecht" in der Geschlechtergeschichte weitgehend durchgesetzt. Allerdings betonen viele Historikerinnen, beide Traditionen feministischer Geschichtsforschung - die (der Frauengeschichte verpflichtete) erfahrungsgeschichtliche wie die diskursanalytische nach Scott - seien gleichgewichtig zu behandeln. Kathleen Canning etwa sieht (Quellen-)Text und (sozialen) Kontext bzw. Diskurs einerseits und weibliche Erfahrung und Handlungsfähigkeit andererseits als zwei gleichwertige Bereiche, auf die sich historische gender-Analysen richten müssen, um überzeugende Ergebnisse zu erzielen. Überzeugende historische Erkenntnisse sind für sie solche, die der Komplexität sozialer Wirklichkeiten gerecht werden und die insbesondere garantieren, dass Frauen als Handlungsträgerinnen nicht erneut aus der historischen Forschung herausfallen (Canning 1994; vgl. auch Newman 1991; Strasser 2000).
2.2 Kritik der Kategorie "Geschlecht": Erfahrung vs. Diskurs
Seit Beginn der 1990er Jahre wurde auch in der deutschsprachigen Forschung bevorzugt die "Konstruktion von Geschlecht" in den verschiedensten historischen Kontexten untersucht, diskursive "Geschlechterordnungen" wurden analysiert und deren Wandel aufgezeigt. Der Gegenstand der bisherigen "Frauengeschichte", Frauen, wurde zur fraglichen Kategorie erklärt (vgl. Opitz 2001). Im Mittelpunkt der Kritik an der bis dahin gültigen Orientierung der Frauengeschichte stand die Infragestellung der weiblichen Erfahrung als kritischem Standort für die feministische Forschung. Gegen die Überzeugung einer großen Zahl von Forscherinnen, dass weibliche Erfahrung eine völlig neue Sicht auf die Geschichte ermögliche, argumentierten die Vertreterinnen der Geschlechtergeschichte, weibliche Erfahrung sei Teil eines umfassenden historischen Diskurses, der weibliche Identität und Erfahrung hervorbringe und strukturiere. Einmal mehr war es Joan Scott, die in einem berühmt gewordenen Aufsatz die historische "Beweiskraft" der (eigenleiblichen) Erfahrung grundsätzlich in Zweifel zog und damit auch die Bedeutung der Erfahrung von Frauen oder anderen unterdrückten Gruppen, etwa Homosexuellen, Afroamerikanerinnen etc. als Bezugspunkt einer kritischen Geschichtsbetrachtung in Frage stellte (Scott 1991a).
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