Es gehört zu den Annahmen der frühen Suizidforschung, dass die Geschlechter aus unterschiedlichen Motiven den eigenen Tod begehren. Frauen galten als Opfer ihrer Emotionen, Männer als tragische Heroen des Kampfs um Arbeit. Der Todeswille geriet zum Signifikat einer kulturellen Krise. In ihrer...
Es gehört zu den Annahmen der frühen Suizidforschung, dass die Geschlechter aus unterschiedlichen Motiven den eigenen Tod begehren. Frauen galten als Opfer ihrer Emotionen, Männer als tragische Heroen des Kampfs um Arbeit. Der Todeswille geriet zum Signifikat einer kulturellen Krise. In ihrer historisch-kulturwissenschaftlichen Arbeit analysiert die Autorin den Geschlechteraspekt anhand von Wissenschafts- und Medienquellen sowie Selbstzeugnissen.
Frauen nehmen sich aus Liebeskummer das Leben? Männer erschüttert der Verlust von Arbeit und Leistungsfähigkeit? Und Queersein selbst macht vulnerabel? So verlockend diese geschlechtsbezogenen Erklärungen sind, so stereotyp sind sie auch. Was sie so attraktiv macht, ist ihr Versprechen, suizidales Handeln zumindest etwas zu enträtseln. Tatsächlich ist die beschriebene Koppelung alles andere als harmlos. Verdeckt sie doch Machtverhältnisse und Gewalterfahrungen und stärkt insbesondere die heteronormative Geschlechterordnung. Vor diesem Hintergrund avancierte das zahlreiche Sterbenwollen ‚bester‘ Jahrgänge zum Signifikat einer kulturellen Krise, die sich als höchst produktiv erweisen sollte. Die Autorin zeichnet über einen Zeitraum von 100 Jahren nach, wie sich die vergeschlechtlichen suizidalen Subjektivitäten in Österreich herausbildeten. Dazu wertete sie wissenschaftliche, institutionelle und journalistische Quellen sowie Fotografien aus. Aber auch die Perspektive der direkt Betroffenen kam nicht zu kurz und wurde über Tagebücher, Lebenserinnerungen, letzte Grüße und Briefwechsel rekonstruiert. Die vorliegende Arbeit wurde mit dem Theodor-Körner-Preis für Wissenschaft und Kunst der Republik Österreich ausgezeichnet.
Michaela Maria Hintermayr, Universität Wien, Österreich.