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Reich Gottes, Kreuz, Kirche.

Reich Gottes, Kreuz, Kirche.

Die vergessene Stroy der Evangelien

vonWright, N. T. | Behrens, Rainer
Deutsch, Erscheinungstermin Februar 2015
lieferbar
17,95 €
(inkl. MwSt.)
Seit den Anfängen des Christentums spielt die Lektüre der Evangelien eine zentrale Rolle. Über allem Forschen und Studieren haben wir jedoch die wesentliche Botschaft vergessen. N.T. Wright schreibt: "Während meiner Studien über Jesus und die Evangelien habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Großteil der...

Informationen zum Titel

978-3-86827-504-9
Marburg an der Lahn
Februar 2015
2015
1
1., Auflage
Buch (gebunden)
477 g
335
139 mm x 211 mm x 35 mm
Color of cover: Green, Color of cover: Silver, GB
Deutsch
eng
Christliches Leben und christliche Praxis, Theologie
Seit den Anfängen des Christentums spielt die Lektüre der Evangelien eine zentrale Rolle. Über allem Forschen und Studieren haben wir jedoch die wesentliche Botschaft vergessen. N.T. Wright schreibt: "Während meiner Studien über Jesus und die Evangelien habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Großteil der westlichen christlichen Tradition schlicht vergessen hat, worum es in den Evangelien eigentlich geht. Trotz mehrerer Jahrhunderte intensiver und schwerer Arbeit an allen möglichen Merkmalen der Evangelien haben wir oft die Hauptsache übersehen, die uns alle vier Evangelien so ungeduldig erzählen wollen. Ich bin daher zu dem Schluss gekommen, dass wir nicht nur hier und da ein bisschen an der Feinabstimmung arbeiten müssen. Wir müssen grundsätzlich neu durchdenken, was die Evangelien zu sagen versuchen." In seinem Buch bietet Wright uns die Gelegenheit, den kraftvollen Texten ganz neu und frisch zu begegnen. Hier wird dem Leser die überraschende, unerwartete und geradezu schockierende Botschaft der Evangelien geboten: Es ist die Geschichte eines neuen Königs, der alles verändert und der uns in seine neue Welt einlädt.
N. T. Wright war angelikanischer Bischof und ist einer der führenden Neutestamentler im englischen Sprachraum. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.
1. Das fehlende Mittelstück

Das Problem, das ich in diesem Buch behandeln möchte, kann mit einer persönlichen Geschichte eingeführt werden, die sich vor fast fünfzig Jahren zutrug. Ich war in der High School und versuchte, mit einigen Freunden eine kleine Gruppe anzubieten, die sich mit christlichen Themen befasste. In einem bestimmten Semester entschieden wir uns, eine Reihe über Jesus zu veranstalten. Jedes Treffen sollte mit der Frage beginnen: „Warum?“ Die Themen umfassten Fragen wie: Warum wurde Jesus geboren? Warum lebte Jesus? Warum starb Jesus? Warum stand Jesus wieder von den Toten auf? Und warum wird er wiederkommen? (Ich glaube nicht, dass wir ein Treffen zum Thema hatten: Warum fuhr Jesus zum Himmel auf – obwohl das eigentlich nötig gewesen wäre.) Mir wurde jedenfalls die Aufgabe übertragen, die zweite dieser Fragen vorzubereiten und das entsprechende Treffen zu leiten: Wa-rum lebte Jesus?
Schon damals als ungehobelter Teenager erkannte ich, dass ich das kürzeste Streichholz gezogen hatte. Hätte man Jesu Geburt zugeteilt bekommen, hätte man über die Inkarnation reden können, darüber, dass Gott Mensch wurde. Jeder von uns hatte Erinnerungen an Weihnachtspredigten und wir wussten, wie wichtig es war, dass Jesus nicht bloß ein normaler Mensch war: Er war Gott in Person. Es gab sogar die Frage der Jungfrauengeburt. Man hatte also genug Material.
Dasselbe galt für die Person, die über Jesu Tod reden sollte. Selbst in jenen jungen Jahren wussten wir nicht nur, dass der Satz wichtig war: „Jesus starb für unsere Sünden.“ Man sollte auch etwas tiefer einsteigen und fragen, wie das geschehen konnte, inwiefern das Sinn ergab. Was mich betraf, war dies der Punkt, an dem ich eigentlich auf den Plan hätte treten müssen: Meine früheste Erinnerung an meinen persönlichen Glauben bestand darin, dass ich als kleiner Junge von dem Gedanken überwältigt und zu Tränen gerührt war, dass Jesus für mich gestorben war. Was das Kreuz über die Liebe Gottes sagt, ist für mich immer zentral und entscheidend gewesen. Ich glaube nicht, dass wir als Schulkinder wirklich die Bandbreite all dessen begriffen, was man „Sühnetheologie“ nennt. Aber wir wussten, dass es einige wichtige Fragen gab, die man sich anschauen sollte, und einige wichtige und zentrale Überzeugungen, die es zu begreifen galt.
So war es auch mit der Auferstehung, und so war es sogar mit der Wiederkunft Jesu. Auch in Bezug auf diese Themen bin ich mir zwar nicht sicher, dass wir vertieft darüber nachdachten oder unbedingt die hilfreichsten Bibeltexte dazu untersuchten. Doch dies waren die aufregenden Themen. Hier gab es viel drüber zu reden, vieles zum gedanklichen Verdauen, vieles, das uns nicht nur schwer grübeln ließ, sondern uns auch dazu brachte, die Freude zu feiern, dass wir an Jesus glaubten und als Christen zu leben versuchten.
Wie stand es aber um die Frage in der Mitte – um meine Frage? Warum hatte Jesus gelebt? Mit anderen Worten: Wie stand es um das Stück zwischen der Krippe und dem Kreuz? Immerhin gab es Weihnachtslieder und andere Choräle, die Jesus direkt „von seiner ärmlichen Krippe bis zu seinem bitteren Kreuz“ führten. Spielte es eine Rolle, dass Jesus den vier Evangelien zufolge eine kurze Zeit voller intensiver und aufregender öffentlicher Aktivitäten gegen Ende seines Lebens erlebt hatte? Welche Wahrheit konnten wir davon lernen? Warum musste sein Leben so aussehen? Spielt es eine Rolle, dass er all diese Dinge tat, dass er all diese Dinge sagte, dass er all diese Dinge war? Hätte es irgendeinen Unterschied gemacht, wenn er als Sohn Gottes von einer Jungfrau geboren, aber völlig unbekannt gewesen und dann gekreuzigt worden wäre? Wenn er für unsere Sünden gestorben wäre, ohne dass vorher all die Dinge passiert wären, von denen die Evangelien berichten? Und wenn dem nicht so sein sollte: Warum nicht?
Ich habe damals und in den letzten Jahren zunehmend erkannt, dass viele Christen die Evangelien lesen, ohne sich jemals diese Fragen zu stellen. Um eine Wendung von einem bekannten Buch aufzugreifen (The Empty Raincoat; wörtlich: Der leere Regenmantel): Solche Leser erleben die Evangelien als leeren Mantel. Die äußere Hülle ist vorhanden – Jesu Geburt, Tod und Auferstehung. Doch wer steckt in dem Mantel? Steckt dort überhaupt jemand drin? Und spielt das eine Rolle?
Jetzt kommt das Frustrierende: Ich kann mich leider überhaupt nicht mehr an das erinnern, was ich als Teenager damals in meinem Vortrag gesagt habe. Ich weiß nicht mehr, welchen Sinn ich dem Leben Jesu zu verleihen versuchte. Es ist möglich, dass irgendwo tief in einer verstaubten Kiste einige gekritzelte Notizen von jenem frühen Versuch überlebt haben, die Frage zu beantworten, die mich mein ganzes Leben verfolgt hat. Doch wenigstens erinnere ich mich noch an die Tatsache, dass ich irritiert war. Und genau das ist ein Teil des Grundes für dieses Buch. Dass ich irritiert war, war kein unglücklicher Zufall. Es war nicht so, dass die meisten Christen die Antwort kannten und nur ich es noch nicht begriffen hatte. Ohne es zu erkennen, war ich über eine Schwachstelle in der allgemeinen Struktur des christlichen Glaubens gestolpert, wie er in der heutigen Welt Ausdruck gefunden hat – und das gilt, so lautet mein Verdacht, schon für eine viel längere Zeit, als wir uns vielleicht vorstellen. In den Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes haben wir diese ganze Materialfülle vorliegen. Warum? Was sollen wir damit anfangen?

Das Rätsel eines ganzen Lebens
Springen wir nun in die Zeit fünfzehn Jahre nach dieser Erfahrung. Ich war Ende zwanzig und wurde ziemlich überraschend gebeten, vor der Studentenvereinigung „Christian Union“ in Cambridge eine Bibelauslegung zu halten. Ich weiß nicht mehr, wer hinter der Anfrage stand oder was man von mir erwartete, aber meine Themenvorgabe lautete: „Das Evangelium in den Evangelien.“
Prediger und natürlich auch Theologen erkennen wohl sofort das Problem, welches dieses Thema darstellt (ganz abgesehen von der Herausforderung, so einen riesigen Komplex in fünfzig Minuten zu behandeln, und ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich zu jener Zeit Forschungen zu Paulus betrieb, nicht zu den Evangelien). Mir ist heute klar, was mir damals wohl nicht bewusst war: Dieses Thema ist eng mit dem Rätsel verbunden, dem ich als Teenager begegnet war. Lassen Sie mich das wie folgt erläutern.
Als C. S. Lewis sein berühmtes Buch History of English Literature in the Sixteenth Century schrieb, nahm er darin ganz natürlich auch einen Abschnitt über die englische Reformation auf, nicht zuletzt über den großen Übersetzer William Tyndale. Da er für ein nicht-theologisches Publikum schrieb, musste Lewis einen Punkt erklären, der andere Leser offenbar verwirrt hatte. Als William Tyndale, einer der ersten Protestanten Englands und Schüler Martin Luthers, über „das Evangelium“ schrieb, meinte er damit nicht „die Evangelien“ – Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Er meinte „das Evangelium“ im Sinne der Botschaft: die gute Nachricht, dass unsere Sünden allein aufgrund von Jesu Tod vergeben werden können. Dies muss man im Glauben ergreifen – das ist alles, was man tun kann. Man kann Gott nicht durch „gute Taten“ beeindrucken. „Das Evangelium“ in diesem Sinne ist das, was die frühen Reformatoren ihres Erachtens in den Paulusbriefen gefunden hatten, insbesondere im Römer- und im Galaterbrief, und dort insbesondere in Römer 3 und Galater 2-3.
Nun ist zwar richtig, dass man dieses „Evangelium“ unter Verwendung von paulinischen Begriffen erklären kann. Man kann es präziser fassen, man kann die Interpretation dieses oder jenes Verses oder technischen Begriffes schärfer fassen. Aber der Punkt, um den es geht, lautet: man kann all dies tun, ohne in irgendeiner Weise auf eines der „Evangelien“ zu verweisen, auf die vier Bücher, die zusammen mit der Apostelgeschichte im Neuen Testament in der uns vorliegenden Form den Paulusbriefen vorangehen. In vielen klassischen christlichen Kreisen, inklusive der Fülle von Bewegungen, die im weitesten Sinne unter dem Label „evangelikal“ laufen (und wir sollten uns daran erinnern, dass das Wort „evangelisch“ im Deutschen größtenteils „lutherisch“ bedeutet), herrschte die Annahme, die mindestens bis auf die Reformation zurückgeht, dass „das Evangelium“ das ist, was man in den Paulusbriefen findet, insbesondere eben im Römer- und Galaterbrief. Dieses „Evangelium“ besteht normalerweise in einer präzisen Aussage über das, was Jesus in seinem erlösenden Tod erreichte („Sühne“), und in einer präzisen Aussage darüber, wie sich eine Einzelperson das, was er erreichte, aneignen kann („Rechtfertigung aus Glauben“). Man ging davon aus, dass Sühne und Rechtfertigung im Zentrum des „Evangeliums“ stehen. Aber „die Evangelien“ – Matthäus, Markus, Lukas und Johannes – scheinen fast nichts zu diesen Themen zu sagen zu haben.
Auf einer bestimmten Ebene enthalten „die Evangelien“ natürlich dieses „Evangelium“, schlicht und einfach, weil sie die Story von Jesu Tod erzählen. Ohne diese Story würde das ganze paulinische „Evangelium“ keinen Sinn ergeben – wenn also
z. B. jemand vorschlagen würde, dieser „Christus“, von dem Paulus spricht, hätte überhaupt nicht gelebt oder wäre nie an einem Kreuz gestorben. Genau das haben einige Leute im zweiten Jahrhundert zu sagen versucht. Sie boten stattdessen einen „Jesus“ an, der schlicht und einfach ein spiritueller Lehrer war. Doch ist das alles? Ist „das Evangelium in den Evangelien“ schlicht die nackte Tatsache des Todes Jesu, die Paulus und andere als „gute Nachricht“ interpretierten, obwohl in dem Moment des Kreuzestodes niemand das so verstand?
Ich denke, dass dies das Problem ist, auf das ich bei jenem Vortrag antworten sollte, zu dem ich in Cambridge eingeladen war. Wiederum kann ich mich leider nicht erinnern, was ich damals sagte. Vielleicht habe ich noch irgendwo Aufzeichnungen, aber ehrlich gesagt habe ich nicht nachgesehen. Vielleicht gibt es sogar eine Kassettenaufnahme – obwohl Kassetten (wer erinnert sich noch an sie?) 1978 noch in den Kinderschuhen steckten.
Ich wage aber mal zu vermuten, was ich damals unter anderem gesagt haben könnte. Es gibt natürlich berühmte Passagen wie Markus 10,45: „Der Menschensohn kam. als Diener, um sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.“ Okay, denkt der Leser, da haben wir es doch: ein Verweis auf Daniel 7, verbunden mit einem Verweis auf Jesaja 53,5, der berühmten Passage, in welcher der „Gottesknecht“ verwundet, geschlagen und getötet wird, „für unsere Übertretungen“ und „für unsere Ungerechtigkeit“. Das hört sich – für einige! – so an, als hätte Markus letztlich doch noch eine Lektion von Paulus gelernt. Und das reicht dann auch – hier haben wir unsere „Sühnetheologie“ in nuce vorliegen, direkt im Markusevangelium.
Es gibt allerdings ein Problem. Matthäus bringt dieselbe Zeile (Matthäus 20,28), doch bei der Gelegenheit, bei der Lukas sie hätte wiederholen können, scheint er das entscheidende Element auszulassen (Lukas 22,27, wo Jesus einfach sagt: „Ich bin unter euch wie ein Diener“). Aufgrund dieses und anderer Merkmale haben einige sogar den Schluss gezogen, Lukas habe überhaupt keine „Theologie des Kreuzes“, keine „Sühnelehre“. Ich halte das für ein schwerwiegendes Missverständnis und erkläre später, warum. Doch selbst wenn Lukas die Wendung aus dem Markusevangelium exakt wiedergegeben hätte, sieht es nicht so aus, als würden die Evangelien „Sühne“ zu ihrem Hauptthema machen – zumindest nicht in dem Sinne, den das Wort in der Kirche angenommen hat.
Wenn es um „Rechtfertigung“ geht, dann gibt es eine Passage im Lukasevangelium, im Gleichnis vom Pharisäer und „Zöllner“ (18,9-14), in dem gesagt wird, dass der Sünder „gerechtfertigt“ wurde, in einem ungefähren paulinischen Sinne. Immerhin bekannte er seine Sünden und vertraute allein auf Gottes Gnade, im Unterschied zum selbstgerechten Pharisäer.
Und es gibt mehrere Sprüche im Johannesevangelium, die zwar meist nicht diskutiert werden, wenn es um „Rechtfertigung“ geht, die aber für unser Thema relevant sein könnten. Da ist vor allem der wohlbekannte Vers Johannes 3,16: „Ihr müsst wissen, wie sehr Gott die Welt geliebt hat: so sehr, dass er seinen einzigen, besonderen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern Anteil am Leben des neuen Zeitalters Gottes hat.“ Doch wie passt dieser Spruch in die Story, die Johannes erzählt? Wie bereitet er uns auf den abschließenden Schrei Jesu am Kreuz vor, tetelestai, „es ist vollbracht“ (19,30)? Viele Prediger haben diesen Vers als Ausdruck der „Sühnetheologie“ verstanden. Der Punkt dabei ist, dass tetelestai das Wort war, das die alten Griechen auf eine Rechnung schrieben, wenn sie bezahlt war: „Erledigt.“ „Bezahlt.“ „Die Summe wurde beglichen.“ Es gibt viele Wege, auf denen man eine „paulinische“ Resonanz aus vielen Versen herausfiltern kann.
Aber ist das genug? War Johannes tatsächlich an dem interessiert, was wir „Sühne“ nennen? Wenn dem so wäre, wie drückt er das dann aus? Oder um es anders zu formulieren: Was sind die Hauptthemen, die Johannes untersucht? Wie passt sein Verständnis des Kreuzes und dessen Bedeutung zu seinen Themen – im Unterschied zu der Frage, wie Johannes zu dem Gedankengebäude passt, das wir erdacht und geerbt haben?
Auf jeden Fall müssen diese und ein paar ähnliche Passagen sozusagen wohl jenseits ihres eigentlichen Zusammenhangs wertgeschätzt werden. Man nimmt an, dass dieser eigentliche Zusammenhang – die Story, die Matthäus, Markus, Lukas und Johannes auf ihre je eigene Weise über das erzählen, was Jesus nach seiner Geburt und vor seinem Tod passierte – dass also dieser Zusammenhang nicht „das Evangelium“ ist, jedenfalls nicht auf dieselbe Weise, auf die der Tod Jesu und die paulinische Rechtfertigungslehre „das Evangelium“ ist. Dies ist meines Erachtens das Problem, auf das ich in meinem Vortrag in Cambridge eine Antwort geben sollte. Und mir ist heute klar, dass dies das Rätsel ist, das ein Hauptthema meines Lebens gewesen ist. Das Rätsel des Lebens Jesu – Worum ging es in seinem Leben? – hat sich an mich herangeschlichen und ist zum Rätsel meines eigenen Lebens geworden.
Wir machen einen weiteren Sprung von fünfundzwanzig Jahren bis ins Jahr 2003. In jenem Jahr nahm ich an einer Konferenz teil, an der eine sehr bekannte christliche Führungspersönlichkeit aus einem anderen Kontinent Zeit mit mir verbringen wollte. Er hatte in den Wochen vor der Konferenz mein Buch Jesus and the Victory of God gelesen und war davon fasziniert. Er wollte wissen, inwiefern all die Aspekte dieses Buches im Hinblick auf „das Evangelium“ Sinn ergaben, an das er glaubte und das er lehrte. Wir tranken eine Tasse Tee (einige britische und anglikanische Stereotypen ändern sich halt nie) und sprachen rund eine Stunde miteinander. Ich versuchte zu erklären, was ich meines Erachtens erkannt hatte: Dass die vier Evangelien in den Augen vieler Christen sozusagen aus den ersten Seiten des Kanons des Neuen Testaments herausgefallen waren. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes wurden benutzt, um Punkte zu unterstützen, die man aus den Paulusbriefen herausholen konnte, doch ihre eigentliche Botschaft war noch nicht mal entfernt erahnt worden, ganz zu schweigen davon, dass diese Botschaft in die weitere biblische Theologie integriert worden wäre, in die sie den Evangelien zufolge aber gehört. Ich erinnere mich, dass ich sagte, dass das ziemlich ironisch war in einer Tradition (zu der er und ich gehören), die stolz darauf ist, „biblisch“ zu sein. Soweit ich sehen konnte, wurde dieses Wort in einer ganzen christlichen Tradition dazu gebraucht, „paulinisch “ zu bedeuten. Und schon damals stellte ich infrage, ob man Paulus wirklich erlaubte, für sich selbst zu sprechen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Wir kamen ans Ende unserer gemeinsamen Stunde. Es war Zeit, das Gespräch zu beenden.
„Nun, Tom“, sagte er und fasste das Gespräch zusammen. „Ich denke, dass du sagst, dass ich nicht biblisch genug bin.“
Ich schnappte innerlich nach Luft. Das war ein ziemliches Eingeständnis.
„Ja“, erwiderte ich. „Das ist genau das, was ich sage.“
Und wenn das für meinen damaligen Gesprächspartner galt, dann gilt das auch für einen Großteil der westlichen christlichen Tradition (ich kann nicht für die östliche Orthodoxie sprechen): für Katholiken und Protestanten, Liberale und Evangelikale, Charismatiker und Kontemplative. Wir benutzen die Evangelien. Wir lesen sie im Gottesdienst laut vor. Wir predigen oft über Texte aus den Evangelien. Aber haben wir überhaupt damit begonnen zu hören, was sie sagen? Haben wir begonnen, die gesamte Botschaft aufzunehmen, die so viel größer ist als die Summe der kleinen Teile, mit denen wir auf einer gewissen Ebene so vertraut sind? Ich habe nicht den Eindruck. Dies ist das Rätsel eines ganzen Lebens. Es geht nicht nur da-rum, dass wir alle die Evangelien missdeutet haben, obwohl ich denke, dass das im Großen und Ganzen wahr ist. Es geht eher darum, dass wir sie eigentlich überhaupt nicht gelesen haben. Wir haben sie in den Rahmen von Vorstellungen und Überzeugungen eingepasst, den wir aus anderen Quellen erhalten haben. Ich möchte den Evangelien in diesem Buch erlauben, für sich selbst zu sprechen. Nicht jedem wird das Ergebnis gefallen.

Der Kanon und das Glaubensbekenntnis
Das Problem mit der verwirrenden Beziehung zwischen „dem Evangelium“ und „den Evangelien“ spiegelt sich in der ebenso verwirrenden Beziehung zwischen den Evangelien und den großen christlichen Bekenntnissen. Einem guten Freund von mir rutschte in einer begeisternden Präsentation einmal der bemerkenswerte Satz heraus: „Der kanonische Jesus ist natürlich der Christus der Bekenntnisse.“ Mit anderen Worten: Der Jesus, den wir in den vier kanonischen Evangelien finden, ist der Jesus Christus, den wir bekennen, wenn wir das apostolische Glaubensbekenntnis sprechen, das nicänische Glaubensbekenntnis, das Nicäno-Konstatinopolitanum oder gar das so- genannte Athanasische Glaubensbekenntnis (eine viel längere Formulierung; das alte anglikanische Gebetbuch ermutigt die Beter, es zu speziellen Anlässen zu sprechen). Mein Freund unterschied diesen angeblich sowohl bekenntnisgemäßen als auch kanonischen Jesus von den rekonstruierten „Jesusgestalten“ eines Großteils der historischen Wissenschaft. Hier auf der einen Seite, so implizierte er, haben wir einen Berg historischer Forschung, wobei Charaktere wie Schweitzer, Sanders und sogar N. T. Wright unter dem großen Bücherstapel hervorlugen und ihre verschiedenen historischen Rekonstruktionen anbieten. Auf der anderen Seite haben wir etwas völlig anderes, den Jesus, den die kanonischen Evangelien tatsächlich präsentieren und der derselbe ist wie der Jesus der großen Glaubensbekenntnisse.
Mein Problem mit dieser Sicht lautet, dass die kanonischen Evangelien und die Glaubensbekenntnisse tatsächlich nicht dasselbe Bild präsentieren. Es geht hier tatsächlich um eine Frage, die viel weiter und tiefer reicht, als dass wir sie in diesem Buch behandeln könnten. Doch wir können das Kernproblem wie folgt zusammenfassen: Wenn die großen Glaubensbekenntnisse auf Jesus verweisen, dann gehen sie von der Jungfrauengeburt direkt zu seinem Leiden und Sterben über. Die vier Evangelien tun das nicht. Oder um es anders herum auszudrücken: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes scheinen es alle für sehr wichtig zu halten, uns ziemlich viel von dem zu erzählen, was Jesus zwischen seiner Geburt und seinem Tod tat. Insbesondere erzählen sie uns von den Dingen, durch die er das Reich Gottes einläutete: also von den Taten und Worten, die erklärten, dass Gottes Reich in einem gewissen Sinne damals und an jenem Ort ankam, und zwar wie im Himmel, so auf Erden. Die Evangelien erzählen uns ziemlich viel darüber; aber die großen Glaubensbekenntnisse tun das nicht.
Bevor wir die großen Glaubensbekenntnisse detaillierter untersuchen, wollen wir uns an den Grund erinnern, warum sie überhaupt formuliert wurden. Die frühe Kirche stand vor vielen Problemen und hatte viele Schlachten zu schlagen. Das ist kaum überraschend. Jesus selbst hatte seinen Nachfolgern gesagt, dass es so kommen würde. Manchmal gab es direkte Verfolgung; in den ersten drei Jahrhunderten gab es zahlreiche Märtyrer. Manchmal gab es interne Spaltungen, wenn fromme Nachfolger Jesu entdeckten, dass andere fromme Nachfolger Jesu manche Dinge ganz anders sahen, aber ihre abweichende Position genauso fest vertraten. Es gab andauernde Debatten mit jüdischen Gruppen und Einzelpersonen, die nicht glaubten, dass Jesus der verheißene Messias war. Diese Leute fanden sich in der unbehaglichen Lage gegenüber der expandierenden Kirche wieder, die so viele Dinge von ihrem jüdischen Erbe in Anspruch nahm (nicht zuletzt ihre alten Schriften) und dennoch so viele Dinge in einem ganz anderen Licht sah und ihr Leben dementsprechend anders ordnete. Insbesondere gab es die großen Kämpfe mit der Gnosis im zweiten und dritten Jahrhundert. Christliche Lehrer wie Irenäus und Tertullian standen fest für den Glauben an Gott als den guten und weisen Schöpfer. Im vierten und fünften Jahrhundert gab es die Kämpfe um den Arianismus, in denen Lehrer wie Athanasius fest für den Glauben an Jesus als wesensgleich mit dem Vater eintraten. Alle diese ernsthaften und lange andauernden Kontroversen, viele von ihnen vor dem Hintergrund erbitterter Verfolgung durch die imperiale Obrigkeit, waren von enormer Bedeutung für die Art und Weise, auf welche die frühen Christen das verstanden und artikulierten, was für sie wichtig war.
Diese und viele andere ähnliche Kontroversen hinterließen also in der Kirche und im gemeinsamen Leben der Gemeinschaften ihre Spuren. Die christlichen Lehrer erkannten Schritt für Schritt, dass einige Dinge absolut wesentlich für den Glauben waren und andere weniger wichtig. Die wesentlichen, aber umstrittenen Punkte wurden aufgelistet und man einigte sich über diese, um Zweifel zu vermeiden. Diese Listen verwandelten sich in eine Glaubensregel, ein abgestimmtes und miteinander geteiltes Statement über das, was Christen glauben. Diese Glaubensregel wurde dann in den großen Glaubensbekenntnissen kodifiziert. Obwohl auch diese Glaubensbekenntnisse von Zeit zu Zeit umstritten waren, haben sie doch mehr als 1500 Jahre lang als Zeichen und Symbol des christlichen Glaubens und Lebens gedient. Wo man diesen Glauben findet, so haben Christen gesagt, findet man die Kirche, den Leib Christi, die Gemeinschaft der „wahren Gläubigen“. Die Glaubensbekenntnisse stellten dramatische Entwicklungen innerhalb der frühen Kirche dar. Sie sind bis heute eine erstaunliche Leistung im Hinblick auf ihre kurzen, komprimierten und klaren Formulierungen und ihre evokative geistliche Kraft. In der Tradition, zu der ich gehöre, sagen wir das apostolische Glaubensbekenntnis zweimal pro Tag und das nicänische Glaubensbekenntnis bei jedem Abendmahl oder zumindest jeden Sonntag.
Um aber zu dem Punkt zurückzukehren, den ich vorhin gemacht habe: Die Glaubensbekenntnisse erwähnen nichts von dem, was Jesus zwischen seiner Geburt und seinem Tod tat. Die frühen Christen lasen und studierten die Evangelien und versuchten, nach ihnen zu leben. Ihre Loyalität gegenüber den Evangelien steht außer Frage. Sie hielten es aber nicht für nötig, die zentrale Substanz der Evangelien auch in den Glaubensbekenntnissen zu erwähnen. Das hat massive und meiner Ansicht nach völlig unbeabsichtigte Folgen gehabt, und dies ist tatsächlich maßgeblich Teil des Grundes, warum es Christen bis heute schwierig finden zu begreifen, was die Evangelien eigentlich zu sagen versuchen.
Schauen wir uns den zweiten Artikel der Formulierung des Glaubens aus dem vierten Jahrhundert an, den wir als apostolisches Glaubensbekenntnis kennen:

Und an Jesus Christus,?seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,
empfangen durch den Heiligen Geist,
geboren von der Jungfrau Maria,?
gelitten unter Pontius Pilatus,?
gekreuzigt, gestorben und begraben,?
hinabgestiegen in das Reich des Todes,?
am dritten Tage auferstanden von den Toten,?
aufgefahren in den Himmel;?
er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters;?
von dort wird er kommen,?zu richten die Lebenden und die Toten.

So viele Details, und doch kein einziges Wort zur Frage, was Jesus zwischen seiner Empfängnis und Geburt auf der einen und der Kreuzigung unter Pontius Pilatus auf der anderen Seite tat. Warum nicht? Wenn der Zweck in der Zusammenfassung der Schlüsselpunkte des christlichen Glaubens bestand, implizierte das dann, dass der Glaube z. B. Matthäus 3-26 nicht benötigt? Hätten es die Kapitel 1–2 (Jesu Geburt) und 27–28 (sein Tod und seine Auferstehung) auch getan? Verschwendete Matthäus (und eigentlich auch Markus, Lukas und Johannes) seine Zeit, als er uns all diese Dinge in der Mitte erzählte? Gaben sie uns bloß die „Hintergrundgeschichte“, um eine bleibende Neugier zu befriedigen, welche die Kirche in Bezug auf das frühere Leben desjenigen beschäftigen könnte, den die Christen nun als Herrn anbeteten?
Wir sahen bereits zu Beginn des vorherigen Abschnitts: Dieses Problem trat in der Forschung des 20. Jahrhunderts erneut an die Oberfläche, und zwar in der Form der Frage, welche die Gelehrten insbesondere mit Rudolf Bultmann verbinden (obwohl er viele Vorläufer und Nachfolger hatte): Warum sollte sich die Kirche, die den lebendigen Herrn anbetet, mit der Geschichte der Dinge belasten, die er in der Vergangenheit getan hatte? Die Antworten, die von der konservativen Forschung gegeben wurden, scheinen dünn und eindimensional. Sie summieren sich zu etwas, was wir heute ein bloßes Herumfuchteln nennen. Sie halten daran fest, dass die frühen Konvertiten, die darauf erpicht waren, den auferstandenen Herrn in der Gegenwart anzubeten, etwas vom irdischen Leben dieses selben Jesus wissen wollten. Das war zwar zweifellos der Fall. Aber die Evangelien scheinen etwas zu liefern, was mit „Reaktion auf den Wunsch nach Informationen“ völlig unzulänglich beschrieben zu werden scheint. Sie erwecken nicht den Eindruck, dass sie bloß biografisches Hintergrundmaterial liefern. Sie „füllen nicht bloß die Lücken“, um dem gegenwärtigen Glauben und Leben ihrer Leser etwas aufzuhelfen. Sie erzählen eine Story, eine Story, die in den großen Glaubensbekenntnissen der Kirche fast komplett fehlt.
Dasselbe tritt im nicänischen Glaubensbekenntnis noch stärker zutage, das seine gegenwärtige Form ungefähr in der Mitte des fünften Jahrhunderts angenommen hat. Ich zitiere den zweiten Artikel in seiner ökumenischen deutschen Form:

Und an den einen Herrn Jesus Christus,
Gottes eingeborenen Sohn,?
aus dem Vater geboren vor aller Zeit:??
Gott von Gott, Licht vom Licht,?wahrer Gott vom wahren Gott,?
gezeugt, nicht geschaffen,?
eines Wesens mit dem Vater;?durch ihn ist alles geschaffen.?
Für uns Menschen und zu unserem Heil?ist er vom Himmel gekommen,?
hat Fleisch angenommen?durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria?und ist Mensch geworden.

Nun stellen wir uns eine dramatische Pause vor, holen tief Luft und warten, ob noch irgendetwas anderes über Jesus gesagt wird. Das ist jedoch nicht der Fall, das Bekenntnis springt direkt über das „Mittelstück“ der Story hinweg und landet wiederum am Ende:

Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus,?
hat gelitten und ist begraben worden,?
ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift?
und aufgefahren in den Himmel.?
Er sitzt zur Rechten des Vaters?
und wird wiederkommen in Herrlichkeit,?
zu richten die Lebenden und die Toten;?
seiner Herrschaft wird kein Ende sein.

Auch hier gibt es wieder viele Einzelheiten, die auf neue Weise in das Bekenntnis aufgenommen wurden, um neue Probleme und Herausforderungen zu beantworten. Doch wiederum kein einziges Detail, keine einzige Erwähnung von irgendeiner Begebenheit zwischen der Menschwerdung der zweiten Person der Trinität und der Kreuzigung dieser menschlichen und göttlichen Gestalt unter Pontius Pilatus. Es gibt hier nichts über das, was Jesus tat oder warum er es tat oder zu der Frage, in welcher Beziehung Dinge, die er tat, zu seiner Geburt oder seinem Tod standen. Kurzum: Hier klafft eine große Lücke. Genau an dem Punkt, an dem Matthäus, Markus, Lukas und Johannes die Notwendigkeit erkennen, etwas sehr Wichtiges zu sagen, schweigen die Glaubensbekenntnisse komplett.
Das, was sie sagen, verschärft das Problem allerdings noch. Wir werden noch sehen, dass die Evangelien eine Menge über das „Reich Gottes“ zu sagen haben, und zwar als eine Wirklichkeit, die in dem einen oder anderen Sinne gegenwärtig ist. Genau dies steht im Zentrum dessen, was wir in diesem Buch untersuchen müssen. Die Glaubensbekenntnisse erwähnen diesen Aspekt jedoch nicht nur in Verbindung mit Jesu Leben nicht (oder wenigstens in Verbindung mit seinem Tod). Das nicänische Glaubensbekenntnis impliziert ganz im Gegenteil, dass Jesu „Reich“ erst aufgerichtet wird, wenn er „in Herrlichkeit wiederkommt“: „. und wird wiederkommen in Herrlichkeit,? zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein.“ Es sagt nicht explizit, dass sein Reich erst zu diesem Zeitpunkt aufgerichtet wird, aber die Abfolge der Satzteile erweckt klar diesen Eindruck.
Es stimmt zwar, dass es in diesen beiden alten Glaubensbekenntnissen heißt, dass Jesus aufgrund seiner Himmelfahrt „zur Rechten des Vaters“ gesetzt wurde. Im antiken jüdischen Denken konnte dieser Satz mit seinen Echos aus Daniel 7 nur bedeuten, dass Jesus von jenem Moment an der Mann an der rechten Seite des Vaters war, dem die Herrschaft über die ganze Welt gegeben worden war. Aber in unserer heutigen Welt meint der Begriff „Himmelfahrt“ meist einfach nur, dass Jesus „in den Himmel kam, nachdem er gestorben war“. Die Rede von seinem „Sitzen zur Rechten Gottes“ ist zu einer modischen, wenn nicht gar etwas versponnenen Redeweise verkommen, mit der man ausdrückt, dass er jetzt „eine ganz großartige und herrliche Position einnimmt“. Vielleicht sind wir peinlich berührt von einem wörtlichen Verständnis, dem zufolge Jesus wie ein Astronaut in einen „Himmel“ flog, der einige Meilen über uns im Universum existiert, und vielleicht hat uns diese Peinlichkeit dazu verführt, zwei Dinge zu ignorieren: einmal die wahre Bedeutung des „Himmels“ (der überhaupt kein Ort innerhalb unseres Universums ist, sondern Gottes Raum, der auf alle mögliche Weise Schnittstellen mit unserer Welt hat), und zum Zweiten die wahre Bedeutung der Himmelfahrt als solcher, bei der es um die Souveränität Jesu als desjenigen geht, der vom Vater als Vermittler beglaubigt und berufen wurde. Das Ergebnis war, dass wir die Himmelfahrt in schwammigen Begriffen von übernatürlicher Herrlichkeit verstanden haben, anstatt in der präzisen Terminologie von Jesu Vollmacht über die Welt (wie in Matthäus 28,18; Apostelgeschichte 1,6-11). Tatsächlich impliziert die Himmelfahrt für viele Menschen Jesu Abwesenheit, nicht seine universale Gegenwart und souveräne Herrschaft. Und an dieser Stelle erheben nicht nur Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ihre Einsprüche, sondern auch Paulus, der Hebräerbrief und die Offenbarung. Sie alle denken, dass Jesus bereits jetzt in der Welt das Sagen hat. (Man prüfe das einmal an 1. Korinther 15,20-28; Hebräer 2,5-9; Offenbarung 5,6-14). Diese Texte sagen, was sie unter „Reich Gottes“ verstanden.
Doch für die vier Evangelien war das Reich Gottes nicht etwas, das schlicht und einfach erst mit der Himmelfahrt begann. In gewissem Sinne galt dies bereits von dem Moment an, als Jesus sein öffentliches Wirken begann. Das ist es, was sie uns zu erzählen versuchten. Die meisten Christen haben so einen Gedanken noch nie auch nur ansatzweise im Blickfeld gehabt, ganz zu schweigen von dem Versuch herauszufinden, was das für uns heute heißen könnte. Ich denke, dass dies das Problem mit den großen erhabenen Glaubensbekenntnissen ist, obwohl sie voller feierlicher Wahrheiten und subtiler Weisheit stecken. Sie schaffen es, die Hauptsache nicht zu erwähnen, welche die Evangelien uns zu erzählen versuchen, und sie reden stattdessen von etwas anderem. Sollte uns das beunruhigen? Und entgeht uns dadurch etwas?
Vielleicht nicht. Zweifellos wird uns jemand darauf hinweisen, dass die Glaubensbekenntnisse die älteste Wäscheleine der Christenheit sind. An ihr hängen die sauberen Kleider, die das Ergebnis der Debatten und Kontroversen um die „dreckige Bekleidung“ in jenen frühen Jahrhunderten sind, also um die Dinge, welche die frühen Christen klären und „sauber hinbekommen“ mussten. Nachdem sorgfältig formulierte Statements zu diesen bestimmten Themen gefunden worden waren, wurden diese Statements in offizielle Formulierungen gefasst, in die Glaubensbekenntnisse, um klarzustellen, dass man diese Schlussfolgerungen gezogen hatte und dass diese nun markierten, wo die Kirche jetzt stand.
Der entscheidende Punkt ist, dass zumindest in der Kirche kaum jemand über die Dinge stritt, die man bei Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zwischen den Geschichten von Jesu Geburt und den Geschichten von seinem Tod findet. Kein Häretiker trat hervor und sagte, Jesus hätte nicht in Gleichnissen gelehrt oder keine Wunder getan etc. Diejenigen, die alternative sogenannte Evangelien schrieben (das Thomasevangelium und andere ähnliche Dokumente) oder die Spruchsammlungen zusammentrugen mit Sprüchen, die von Jesus stammen konnten oder auch nicht, und diejenigen, die völlig andere Dinge über das erzählten, was auf Golgatha und am ersten Ostertag geschah – kurzum: die Gnostiker und ähnliche Gruppen – alle diese Leute wurden von Irenäus und Tertullian klar in die Schranken gewiesen. Die alternative Lehre der Gnostiker hatte vorgeschlagen, man solle die sehr jüdische Lehre vom Reich Gottes „wie im Himmel, so auf Erden“ mit der nicht-jüdischen Botschaft von einem „Reich“ ersetzen, das sich als eine neue Art von Selbsthilfe-Spiritualität entpuppte. Die großen christlichen Lehrer des zweiten und dritten Jahrhunderts bestanden im Gegensatz zu derartigen neuen Lehren darauf, dass Gottes Rettung der geschöpflichen Ordnung als solcher im Mittelpunkt stand, nicht die Rettung von erlösten Seelen aus der geschöpflichen Ordnung. Das war Teil des wesentlich jüdischen Glaubens, der in den jüdischen Schriften verwurzelt war und an dem die frühen Christen standhaft festhielten.
Die Entscheidung an diesem Punkt – dass der eine wahre Gott der Schöpfer der Welt war, der die Welt letztlich retten würde – war als solche keine Entscheidung, die ihre Spuren in den Glaubensbekenntnissen hinterlassen hat, mit Ausnahme des ersten Satzes, der Gott als Schöpfer Himmels und der Erden feiert. Die Entscheidung spiegelt sich viel stärker in dem Beharren der frühen Kirche, Matthäus, Markus, Lukas und Johannes als normative Texte zu lesen, im Gegensatz zu irgendeiner der „Alternativen“. Wenn man die vier sich als „kanonisch“ herauskristallisierenden Evangelien neben die Dokumente über Jesus stellt, die andere Leute geschrieben hatten, dann kommt immer wieder zutage, dass die vier kanonischen Evangelien die Story von der Rettung der Schöpfung erzählen, nicht davon, dass die Schöpfung abgetan und aufgegeben wird – mit anderen Worten: Sie erzählen die wesentlich jüdische Story. Daher kann man sagen: Sobald die Entscheidung zugunsten der vier kanonischen Evangelien getroffen war, bestand kein Bedürfnis mehr (so scheinen die frühen Christen angenommen zu haben), im Glaubensbekenntnis zu sagen, dass die kanonischen Evangelien die richtige Story erzählten und die gnostischen Evangelien die falsche.
Immerhin wurden die kanonischen Evangelien in den Gottesdiensten laut vorgelesen. Christen beteten das Vaterunser täglich und baten Gott darin, sein Reich auf Erden aufzurichten wie im Himmel. Man könnte sagen, dass die Glaubensbekenntnisse und der Kanon dazu gedacht waren, nebeneinanderzustehen, wobei sie sich gegenseitig interpretierten. Das Vaterunser war dabei das offensichtliche, verbindende liturgische Glied. Es gab jeden Grund zu der Annahme, dass die Gläubigen die Glaubensbekenntnisse als Rahmen verstehen würden, in dem diese Storys und dieses Gebet alle Aspekte in den Blickpunkt rückten und in dem sie den Sinn ergaben, den sie ergaben. Daher wurde dieses gesamte Material schlicht und einfach in den offiziellen Formulierungen nicht erwähnt – weder die Gleichnisse, noch die Heilungen, die Streitigkeiten mit den Gegnern, die große Morallehre und vor allem die Ankündigung des Reiches Gottes. Die Evangelien und ihre detaillierte Lehre wurden einfach als gegeben vorausgesetzt. Man musste in den Glaubensbekenntnissen nicht auch noch einmal auf sie hinweisen. Wenn die Glaubensbekenntnisse die Wäscheleine der Kirche sind, dann hingen an dieser Wäscheleine nur die dreckigen Kleider, die gewaschen werden mussten. Solange die Kleider immer noch sauber waren – solange die Evangelien jeden Tag und jede Woche in der Kirche gelesen wurden – so lange musste man sie nicht waschen und zum Trocknen auf die Leine hängen.
Wenn die Sachlage tatsächlich so gewesen wäre, dann könnte man diesen Punkt zugestehen. Leider stellte sich die Sachlage allerdings nicht so dar. Die Kirche stellte eine „Glaubensregel“ zur Verfügung, anhand derer man die Schriften angeblich verstehen sollte. Aber die betreffende „Regel“ – die sich entwickelnden Glaubensbekenntnisse und die frühen Formulierungen, die zu ihnen hinführten – entpuppten sich als Texte, die das zentrale Thema der vier Evangelien ignorierten. Man beachte, was dann geschieht. Vielleicht nicht lange nachdem die Glaubensbekenntnisse geschrieben worden waren, verwandelte sich die Wäscheleine in eine Orientierung für die Lehre. Die Liste der früheren Kontroversen wurde zu einem Lehrplan. Die Kirche erklärte: „Dies sind die Dinge, die ihr über Gott, Jesus, den Heiligen Geist etc. wissen müsst.“ Doch damit wurde eine Linie überschritten. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sagen: „Dies sind die Dinge, die ihr über Jesus wissen müsst.“ Wenn man die Glaubensbekenntnisse aus ihrem liturgischen Kontext herausnimmt, wo sie neben die Evangelien und das Vaterunser gehören, und wenn man sie stattdessen als Grundlage eines Lehrprogramms benutzt, dann sagen diese Bekenntnisse: „Nein, dies sind die Dinge, die ihr wissen müsst.“ Und wenn es hart auf hart kommt, übersieht man bei dieser Art der Verwendung der Glaubensbekenntnisse ausgerechnet den zentralen Punkt, den Matthäus, Markus und Lukas auf ihre sowie Johannes auf seine Weise als Hauptsache des Wirkens Jesu darstellen. Dies, so hätten sie gesagt, ist die Story, wie Gott zum König der Welt wurde.
Die großen Glaubensbekenntnisse, die den Glauben von Millionen von Christen sowohl in der östlichen als auch in der westlichen Christenheit geprägt und ausgedrückt haben, lassen also einfach den mittleren Teil der Story weg, die Story vom tatsächlichen Leben Jesu und von der Bedeutung, die diese Story vermittelt. Man könnte einen ähnlichen Punkt auch umgekehrt ausdrücken. All diese hochfliegenden Aussagen über Jesus in den großen Glaubensbekenntnissen – die ich alle befürworte und ex animo in der Kirche nachspreche oder singe (meine Argumentation führt also nicht zu irgendeiner Art von neoliberalem Reduktionismus!) – gehen weit über alles hinaus, was wir sogar im Johannesevangelium finden. Die vier Evangelien sagen rein gar nichts über einen Jesus, der „vor aller Welt gezeugt“ worden wäre oder der auf eine Weise gezeugt worden wäre, die sich von der Weise unterscheidet, auf die andere Dinge geschaffen werden. Sie mögen andeuten (Johannes stärker als die anderen), dass er „wesensgleich mit dem Vater“ ist, aber sie drücken das nicht ganz genau so aus, und über weite Strecken hinweg scheint das nicht die Hauptsache zu sein, von der sie reden.
Und gegen Ende seines Lebens reden sie auch nicht davon, dass Jesus „ins Reich des Todes hinabstieg“. Das wird im 1. Petrusbrief angedeutet (3,19), aber aus den Evangelien würde man davon nichts wissen. Wiederum sage ich damit nicht, dass irgendeine dieser Vorstellungen falsch, unangemessen oder nicht hilfreich ist. Ich sage auch nicht, dass die Kirche falsch lag, als sie ihre Lehre in einer anderen, nachbiblischen Sprache weiterentwickelte, um neuen Herausforderungen zu begegnen und neue Probleme beizulegen. Es war nötig, dies zu tun, und man stellte damit einen Zusammenhang mit dem weitergehenden treuen und fruchtbaren christlichen Leben her. Ich stelle schlicht und einfach fest, dass diese großartigen Statements des Glaubens, welche die Kirche seit jener Anfangszeit bis heute als grundlegend für ihr Leben behandelt hat, es schaffen, nicht von dem zu reden, worüber die Evangelien in der Hauptsache reden. Stattdessen reden die Glaubensbekenntnisse von etwas anderem.
Mit anderen Worten: Ich erkenne, dass sich zwischen dem Kanon und den Glaubensbekenntnissen eine große Kluft auftut. Die kanonischen Evangelien geben uns einen Jesus, dessen öffentlicher Werdegang eine grundlegend wichtige Rolle als Teil dessen spielte, was er erreichte, und das hatte mit dem Reich Gottes zu tun. Die Glaubensbekenntnisse geben uns einen Jesus, über den wir einzig und allein wissen müssen, dass er auf wundersame Weise geboren wurde und dass er für unsere Erlösung starb, auferstand und zum Himmel auffuhr. Die Betitelung „Apostolisches Glaubensbekenntnis“ ist nicht nur historisch gesehen eine unzutreffende Bezeichnung. Meine Erfahrungen, die ich als Teenager und dann in meinen späten Zwanzigern hatte, waren Hinweise auf etwas grundlegend Verwirrendes im Hinblick darauf, wie wir die Evangelien gelesen haben. Wir sind von einer gewissen Art von bekenntnisgemäßem Rahmen ausgegangen, doch die Evangelien passen in diesen Rahmen nicht hinein. Haben wir daher alle die Evangelien missverstanden? Ist der große Mantel des Evangeliums, das die Glaubensbekenntnisse bieten, innen leer? Ich befürchte, dass die Antwort lauten muss: Ja!
Wir wollen diesen Punkt zuspitzen, indem wir eine Ironie beachten, die sich direkt aus dem Gesagten ergibt. Bis heute gilt: Wenn Menschen es auf sich nehmen, die Gottheit Jesu zu untersuchen, dann geschieht das zumindest mit der unterschwelligen Tendenz, dass das Thema des Kommens des Reiches Gottes, und zwar wie im Himmel, so auf Erden, stillschweigend aus dem Blickfeld gerät. Das ist, als wenn ein junger Mann seine ganze Zeit damit verbringt zu beweisen, dass er wirklich der Sohn seines Vaters ist und keine Zeit oder Energie mehr hat, mit seinem Vater in der Firma der Familie mitzuarbeiten – was aber eigentlich einer der besseren Wege wäre, auf denen man die Familienähnlichkeit erweisen könnte. Die Evangelien machen diesen Fehler nicht. Dort offenbart Jesus die Herrlichkeit des Vaters, indem er das Reich Gottes einläutet, und zwar sowohl in seinem öffentlichen Wirken als auch am Kreuz. Mehr dazu in Kürze. Das ist jedoch eine bemerkenswerte vorläufige Schlussfolgerung. Sie stellt uns heute mehrere zusätzliche Fragen: zu unserer Jüngerschaft, unserer Predigt, unserer Hermeneutik und sogar zu unserem Gebet. Die Evangelien drehen sich darum, dass Gott König wird, aber die Glaubensbekenntnisse stellen in den Mittelpunkt, dass Jesus Gott ist. Es wäre wahrhaft bemerkenswert, wenn eine großartige Wahrheit des frühchristlichen Glaubens und Lebens eine andere Wahrheit tatsächlich ersetzen würde, und zwar tatsächlich so vollständig, dass die Menschen vergessen, dass die andere Wahrheit überhaupt existiert. Ich bin allerdings der Ansicht, dass genau das geschehen ist. Dieses Buch wurde in der Hoffnung geschrieben, dass diese Verzerrung korrigiert wird.

Die Sache verfestigt sich: Forschungstrends im
20. Jahrhundert
Bisher habe ich mich auf persönliche Beobachtungen beschränkt. Doch ich glaube, dass das von mir hervorgehobene Problem einen Widerhall über das gesamte Gebiet des Bibellesens hinweg findet, sowohl in der Forschung als auch im populären Bereich, und zwar in all den unterschiedlichen Traditionen. Ein amerikanischer Freund von mir drückte es folgendermaßen aus: Die meisten Kirchgänger in der westlichen Welt behandeln die Evangelien als optionale Vorspeise zu Beginn des Abends. Sie sind die Häppchen zum Cocktail. Erst danach setzen wir uns zu Tisch und widmen uns dem Fleisch der paulinischen Theologie. Ich vermute – obwohl das zu weit führen würde –, dass dies auf einen Großteil des letzten Jahrtausends im Westen zutrifft, während des Mittelalters und dann während und nach der Reformation. Ich sagte bereits im Vorwort, dass die Behandlung jener historischen Story auf eine andere Gelegenheit und wahrscheinlich auf einen anderen Autor warten muss. Im Moment möchte ich mich auf einen sehr einflussreichen Strang der Forschung im 20. Jahrhundert konzentrieren, der das Problem widerspiegelt, das ich hier umreiße. Dieser Strang verfestigt dieses Problem aber auch in der Vorstellungswelt und im impliziten Verständnis zumindest der westlichen Kirche.
Der deutsche Lutheraner Rudolf Bultmann (1884–1976) war einer der einflussreichsten Neutestamentler des 20. Jahrhunderts. Für Bultmann und die Generationen von Gelehrten und Studenten, die direkt oder indirekt von seinem Werk beeinflusst wurden, war die Story von Jesus selbst kein Teil der „Theologie des Neuen Testaments“ – sie war bloß die Voraussetzung dafür. Die Tatsache der Kreuzigung Jesu sei alles, was wir brauchen; das war genug. Alles andere, was man wissen musste, war nicht in Jesu Lehre oder seinem öffentlichen Wirken enthalten, sondern in der Reflektion der frühen Kirche über die Bedeutung des Kreuzes.
Bultmann deutet die Evangelien daher nicht als die Story zur Frage, warum Jesus lebte, also nicht, um das „Evangelium in den Evangelien“ dergestalt zu finden, wie ich es beschrieben habe, sondern um zu sehen, wie die frühen Christen ihren Glauben ausdrückten, indem sie Storys erzählten und immer wieder neu erzählten, die für uns wie „Jesusstorys“ aussehen, die aber größtenteils „mythologische“ Formulierungen der frühchristlichen Erfahrung waren, die auf die fiktive Leinwand der Geschichte Jesu zurückprojiziert worden waren. Bultmanns gesamtes formkritisches Projekt beruhte – zumindest so, wie er es durchführte – auf der Annahme: Wenn man die „Formen“ herausfinden würde, die charakteristische Gestalt der kleinen Anekdoten, die einen Großteil des Materials in den Evangelien bilden, dann würde man wie durch eine Linse die frühe Kirche dabei beobachten, wie sie ihren Glauben ausdrückte. Das war der Grund, so glaubte man, warum die Evangelientraditionen weitergegeben wurden: Nicht, um sich an das zu erinnern oder das zu feiern, was in der Vergangenheit geschehen war (also Jesu öffentliches Wirken), sondern um das weitergehende Leben und den ebensolchen Glauben der frühen Gemeinde zu feiern und aufrechtzuerhalten.
Innerhalb der Bultmannschen Tradition – und auch das ist sehr einflussreich gewesen – ist man oft davon ausgegangen, dass die Evangelisten aus einer größtenteils unhistorischen Perspektive geschrieben hätten. Zumindest ist man oft davon ausgegangen, dass Markus und Johannes nicht mit der Absicht geschrieben hatten, ihren Lesern zu erzählen, was tatsächlich geschehen war, sondern um ihren eigenen Glauben und ihre eigene Erfahrung sowie den Glauben und die Erfahrung ihrer Gemeinden auszudrücken. Lukas wird allerdings manchmal beschuldigt, dieses „Evangelium“ zu falsifizieren, weil zumindest er ganz klar glaubt, dass das, „was geschah“, wichtig ist und in sich selbst Bedeutung hat. Matthäus wurde oft als ein „judenchristlicher“ Autor angesehen (obwohl alle anderen neutestamentlichen Autoren „Judenchristen“ waren!), der allerdings ebenfalls im Hinblick auf das „Evangelium“ falsch zu liegen scheint, das man zu erwarten gelehrt worden war (zweifellos von einer bestimmten Paulusdeutung). Diese konkrete Stimmung, in der man annahm, die vier Evangelien handelten eigentlich nicht „von Jesus“, ganz zu schweigen „vom Evangelium“, sondern stattdessen „vom frühchristlichen Glauben“, ist nun größtenteils Vergangenheit. Viele Gelehrte benutzen heute Material aus allen vier Evangelien als Evidenz für Jesus selbst, und zwar mit den angemessenen kritischen Kontrollen. Doch das zugrunde liegende Problem ist noch nicht angegangen worden.
Auch hier treffen wir auf eine Ironie. Bultmanns Theologie stieß im Verlauf der Jahre auf ein hartnäckiges „Nein“ aus „konservativen“ Kreisen. Vielen „konservativen“ Christen sowohl in Europa als auch in Amerika lag sehr am Herzen, die Autorität der Bibel zu betonen. Daher waren sie entsetzt angesichts des Beharrens von Bultmann und seinen Schülern auf der Ungeschichtlichkeit der Evangelien. (Das ist nicht dasselbe wie ein kritisches Urteil über diesen oder jenen Vorfall; ein Teil des gesamten Programms Bultmanns bestand darin, zu zeigen, dass die Evangelien oder zumindest die frühen Formen der Evangelien ganz prinzipiell keine „Geschichte“ liefern sollten, da das einen Versuch darstellen könnte, den christlichen Glauben auf etwas Solides und Beweisbares zu gründen – mit anderen Worten: den „Glauben“ in ein „Werk“ zu verwandeln.)
Diese „Konservativen“ haben daher die Historizität der Evangelien als Teil ihres Beharrens darauf betont, dass „die Bibel wahr ist“. Doch wenn es um die Interpretation und die Bedeutung der Evangelien geht, finden sich dieselben „Konservativen“ oft auf derselben Seite, auf der sich Bultmann befindet. Auch sie deuten die meisten Storys der Evangelien als Hinweise auf das Kreuz und den Glauben der frühen Kirche. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der mir stolz erzählte, dass er an Weihnachten über Matthäus 1,21 predigen werde: „Du sollst ihm den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von ihren Sünden erlösen.“ Mit anderen Worten: Weder die Inkarnation noch das Reich Gottes würden erwähnt werden; Weihnachten sei schlicht eine weitere Gelegenheit, die (angeblich paulinische) Botschaft vom Kreuz zu predigen. Wenn solche Personen beanspruchen, „der Bibel verpflichtete Christen“ zu sein, muss ich sagen (zumindest in Gedanken): „Wenn du ein ,der Bibel verpflichteter Christ‘ bist, wie kommt es dann, dass du nicht weißt, wozu die Evangelien da sind? Wie kommt es, dass du sie schlicht und einfach behandelst, als lieferten sie ein zufällig ausgewähltes illustratives Material für das, was du offensichtlich ins Blickfeld rücken willst, für den erlösenden Tod und die Auferstehung des göttlichen Erlösers?“
Ich beobachte also Folgendes: Angesichts der Wahl zwischen dem Glaubensbekenntnis (in irgendeiner der Versionen) und dem Kanon der Schrift, in dem die vier Evangelien eine sehr zentrale Stellung einnehmen, hat die Kirche ohne zu zögern das Bekenntnis privilegiert und es dem Kanon überlassen, für sich selbst zu kämpfen – was er nicht immer sehr erfolgreich geschafft hat. Dasselbe gilt, wenn die großen Glaubensbekenntnisse im Protestantismus implizit als „Glaubensregel“ durch die verschiedenen Formulierungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert ersetzt werden, welche die Botschaft der Reformatoren von der „Rechtfertigung aus Glauben“ betonen. Auch diese Botschaft wird dann wiederum zum zentralen Punkt, und die vier Evangelien werden insofern wertgeschätzt, als sie diese Botschaft illustrieren, aber nicht viel weiter darüber hinaus.
Die Evangelien sind natürlich so dicht formuliert, so voller herrlicher und anschaulicher Einzelheiten, dass Prediger genug mit dem Gleichnis oder Wunder zu tun haben, das in einer bestimmten Woche auf dem Predigtplan steht, und dass Gelehrte genug damit zu tun haben, herauszufinden, aus welcher Quelle eine bestimmte Passage stammt. Weder die Prediger noch die Gelehrten haben sich viel darüber den Kopf zerbrochen, was die betreffende Story eigentlich innerhalb der längeren und größeren Erzählung tut, welche der Evangelist entworfen hat. (Das ist natürlich eine Übertreibung. Viele haben das getan und tun es weiterhin. Ich spreche von der Allgemeinheit der Prediger und Lehrer in der Kirche und auch von einem beachtlichen Teil der Gelehrten.) Zum Teil hat das mit der Persönlichkeit zu tun. Lange Zeit ist es viel einfacher gewesen, einen Doktortitel in den Bibelwissenschaften zu bekommen, wenn man ein „Detailmensch“ ist, im Gegensatz zu einer „Big Picture Person“. Das hat Menschen mit scharfen Augen für kleine Einzelheiten in diesen Fachbereich gezogen, aber wenn die Evangelienforschung nicht ernsthaft verzerrt werden soll, muss die Detailversessenheit mit der Vision und Vorstellungskraft ausgeglichen werden, die auch die großen Fragen stellt. Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in einem Satz; die Bedeutung eines Satzes ist sein Gebrauch in einem Abschnitt; und die Bedeutung eines Abschnitts ist sein Gebrauch innerhalb des größeren Dokumentes, zu dem er beiträgt. Einzelheiten sind entscheidend wichtig, doch sie sind wichtig als Teil des Gesamtbildes. Und der Kehrreim meines Liedes in diesem Buch lautet, dass wir alle vergessen haben, worum es in dem großen Bild eigentlich geht.
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