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Überrascht von der Bibel

Überrascht von der Bibel

Erstaunliche Einsichten zu strittigen Themen

vonWright, N. T. | Weißenborn, Thomas
Deutsch, Erscheinungstermin Juni 2016
lieferbar
17,95 €
(inkl. MwSt.)
In diesem Buch gibt der renommierte Neutestamentler N. T. Wright herausfordernde Einsichten in die Bibel und klärt so manches Missverständnis auf, dem unsere christlichen Gemeinden unterliegen. Soll der Glaube öffentlich gelebt werden? Was sagt die Bibel zu Frauen in der Gemeindeleitung? Kann ein Naturwissenschaftler...

Informationen zum Titel

978-3-86827-618-3
Marburg an der Lahn
Juni 2016
2016
1
Auflage
Buch (gebunden)
431 g
287
142 mm x 211 mm x 30 mm
Color of cover: Brown, Color of cover: Orange, Color of cover: White, GB
Deutsch
eng
Judentum, Theologie, Religiöse Fragen und Debatten, Protestantismus, evangelische und protestantische Kirchen, Christliches Leben und christliche Praxis, Neues Testament, Soziallehre und Sozialethik, Pastoral und Seelsorge, Altes Testament, Natur und Existenz Gottes
In diesem Buch gibt der renommierte Neutestamentler N. T. Wright herausfordernde Einsichten in die Bibel und klärt so manches Missverständnis auf, dem unsere christlichen Gemeinden unterliegen. Soll der Glaube öffentlich gelebt werden? Was sagt die Bibel zu Frauen in der Gemeindeleitung? Kann ein Naturwissenschaftler an die Auferstehung glauben? Wie bricht Gottes Reich auf der Erde an? Welchen Stellenwert hat die Schöpfung? Sind die alten Götzen wirklich tot? Was passiert am Ende der Zeit? Diesen und anderen brisanten Themen geht der Autor auf inspirierende, ermutigende und nicht zuletzt überraschende Weise nach.
Nicholas Thomas Wright, geb. 1948, seit 1971 verheiratet und Vater von vier Kindern. Er studierte Geschichte und Theologie in Oxford, promovierte 1981 mit dem Thema "The Messiah and the People of God: A Study in Pauline Theology with Particular Reference to the Argument of the Epistle to the Romans" und war von 2003 bis August 2010 anglikanischer Bischof von Durham (England). Seit September 2010 ist er Research Professor für Neues Testament und Frühes Christentum an der University of St Andrews (Schottland). Er ist einer der führenden neutestamentlichen Theologen und Leben-Jesu-Forscher im englischen Sprachraum.
1. Den Graben zwischen Naturwissenschaft
und Glauben überwinden

Als ich noch in der Westminster Abbey tätig war, wurde ich in regelmäßigen Abständen von Besuchern – vor allem von Amerikanern – angesprochen: „Ist es wirklich wahr, dass hier Charles Darwin begraben liegt?“ Einer der Touristinnen, die mich so etwas gefragt hat, konnte ich sogar mit Blick auf den Weg, den sie nach dem Abendgebet durch die Kirche genommen hatte, erwidern: „Madam, ich glaube, Sie sind sogar auf ihn getreten.“ – „Das ist auch gut so“, antwortete sie mit Nachdruck, was mir wiederum einiges über die Touristin offenbarte. Bei einer anderen Gelegenheit ist mir, als ich gerade an Darwins Grab vorbeiging, ein kleiner Haufen aus Blumen und Grußkarten aufgefallen. Offensichtlich hatten Schulkinder ihn dort hinterlassen, wobei die Grußkarten in der Regel so etwas wie „Mr Darwin, wir lieben Sie“ verkündeten.
Ich habe mich oft gefragt, was man ihnen wohl beigebracht hatte. Hatten ihnen ihre Lehrer die Geschichte der westlichen Kultur nach dem Muster vermittelt, wonach es vor Darwin nur Finsternis, Aberglaube, Vorurteile und den Würgegriff der Religion gegeben habe, bis dann durch Darwin höchstpersönlich eine neue Ära des Glücks, der Befreiung, des Wissens und der Menschlichkeit eingeläutet wurde? Wenn das keine in höchstem Maße selektive und vereinfachende Geschichtsschreibung ist, dann weiß ich nicht, wie so etwas aussehen sollte. Die Westminster Abbey zieht jedes Jahr Tausende von Besuchern aus allen Teilen der Welt an. Wie aber kommt es, dass anscheinend nur Amerikaner an Darwin interessiert sind und dabei auch sofort Stellung beziehen in diesem vermeintlichen Krieg, in dem allein schon sein Name so etwas wie ein Schlachtruf ist?
Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich Brite bin (und nicht Amerikaner) und Theologe (und nicht Naturwissenschaftler), womit ich bei den erwähnten Diskussionen zwangsläufig eine Außenseiterrolle einnehme. Trotzdem hoffe ich, an dieser Stelle unseren Blick auf drei spezifische Dinge richten zu können, die ein Außenseiter vielleicht besser erkennen kann als ein Insider.
Zum Ersten möchte ich darauf hinweisen, dass die Diskussion zwischen Wissenschaft und Glaube in Nordamerika anders geführt und wahrgenommen wird als an vielen anderen Orten der Welt. Zweitens möchte ich andeuten, dass das wenigstens teilweise mit den epikureischen Fundamenten des sozialen Selbstverständnisses zu tun hat, das die Vereinigten Staaten seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert prägt. Deshalb ist die Pattsituation zwischen Naturwissenschaft und Glaube in Amerika analog zu sehen zu dem Patt zwischen Kirche und Staat beziehungsweise Religion und Politik. So kann keines der damit angesprochenen Themen für sich betrachtet, werden, ohne dass auch alle anderen Themenbereiche mit ins Spiel kommen. Aus diesem Grund möchte ich eine sehr viel radikalere Neuausrichtung der zugrunde liegenden Weltanschauungen andenken, als normalerweise in den Diskussionen über Naturwissenschaft und Religion üblich. Das, so hoffe ich, ist der Punkt, an dem ein biblischer Theologe einen brauchbaren Beitrag leisten kann.
Die aktuelle Diskussion in Nordamerika
Auf den Britischen Inseln hatten wir nie einen Scopes-Prozess. Natürlich hatten wir im Juni 1860 in Oxford die berühmt-berüchtigte öffentliche Debatte zwischen dem damaligen Oxforder Bischof Samuel Wilberforce und dem Naturwissenschaftler T. H. Huxley. Innerhalb einer Generation hat sich die Geschichte um diese Debatte verselbstständigt und wurde von einer Tradition überformt, die so stark war, dass diese Tradition schließlich als allgemeine Wahrheit akzeptiert wurde, obwohl die neuere Forschung nachweisen konnte, dass die Dinge keineswegs so klar und einfach lagen, wie es uns die Überlieferung glauben machen möchte.
Gemäß jener Überlieferung fragte Wilberforce Huxley an einer Stelle, ob er eher väterlicher- oder mütterlicherseits vom Affen abstamme, worauf Huxley sinngemäß geantwortet haben soll, er stamme lieber vom Affen ab als von jemandem, der seine intellektuellen Gaben so grob missbrauche. Das ist jedoch nur eine legendarische Ausschmückung. Wie der Philosoph John Lukas schon vor einer Weile nachgewiesen und Stephen Jay Gould bestätigt hat, ist die Story, wonach der Agnostiker Huxley dem kirchlichen Dogma einen schweren Schlag versetzt und der Freiheit zum Durchbruch verholfen habe, in einer Zeit entstanden, in der die englische Mittelklasse im politischen Konkurrenzkampf mit der Aristokratie ein besonderes Interesse daran hatte, die Herkunft eines Menschen als unabhängig von dessen moralischem Wert darzustellen.
Hinzu kommt, dass sich die naturwissenschaftliche Welt bis zum Ende des Jahrhunderts grundlegend verändert hatte. Während früher jeder am naturwissenschaftlichen Diskurs teilnehmen konnte (sofern er über die entsprechenden Mittel verfügte), waren es zu diesem Zeitpunkt fast nur noch die entsprechenden Fachleute. Das Bild von einer freien Wissenschaft, die über eine rückschrittliche Kirche triumphiert, passte also viel besser zu dem zunehmend unabhängigen Selbstverständnis der Naturwissenschaftler des Jahres 1890, in dem viele der entscheidenden Texte über die Episode zwischen Wilberforce und Huxley zu Papier gebracht wurden, als in die wesentlich unbekümmerteren 1860er-Jahre. Doch dort, im viktorianischen Zeitalter, blieb die Geschichte schließlich hängen, weswegen die meisten Menschen im heutigen Großbritannien eine verschwommene Vorstellung von einer Kirche haben, die die Menschen im Ungewissen lassen will, während uns die Wissenschaft von den Fesseln der Dogmatik und Ethik befreit habe. Der Schrecken zweier Weltkriege und der dazwischenliegenden Weltwirtschaftskrise gab den Menschen noch viel mehr Grund zur Besorgnis und eigentlich weit überzeugendere Gründe, die Grundlagen ihres überlieferten Glaubens infrage zu stellen. Ich wiederhole also das, was ich schon zuvor gesagt habe: Ich denke, dass im heutigen Großbritannien nur wenige Menschen ihren Glauben aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verlieren, obwohl einige, die ihn aus anderen Gründen aufgegeben haben oder nie einen Glauben besaßen, es recht bequem finden, nicht nur die alten Geschichten von Wilberforce und Huxley, sondern auch die noch älteren wie die von Kopernikus und Galileo hervorzukramen.
In Amerika dagegen übte der Scopes-Prozess einen enormen Einfluss auf die Kultur aus und beschleunigte eine Polarisierung, die man anderswo in der Welt so nicht findet. Ich habe vor Kurzem einen der Klassiker der geistlichen Literatur wieder entdeckt, der mir als Teenager sehr viel Freude bereitet hat: Isobel Kuhns Buch Die mich suchen. Kuhn erlebte als Studentin aus einem christlichen Elternhaus in den 1930er-Jahren, wie ihr naturwissenschaftlicher Professor jeden herablassend und beleidigend behandelte, der an die Sechs-Tage-Schöpfung, an eine der anderen biblischen Urgeschichten oder an überhaupt irgendeine biblische Geschichte glaubte, die von Jesus und den Anfängen des Christentums inbegriffen. Der von Professoren und Studierenden ausgeübte Druck, sich endlich der Naturwissenschaftler-sind-Atheisten-Position anzuschließen, war enorm. Ich vermute, dabei ging es in der Regel um weit mehr als die einfache, offene Diskussion, die geradeheraus und mit rationalen – oder auch rationalistischen – Argumenten geführt wird. Die modernistische Bewegung war sowohl kulturell als auch politisch oben auf. Man nahm allgemein an, dass der christliche Glaube zur vormodernen Welt gehöre und im Lauf der Menschheitsgeschichte in Vergessenheit geraten würde – und das nicht nur, aber auch wegen seiner Schöpfungsgeschichte und den Wundern, die von Jesus berichtet wurden. Es erscheint mir so – und das ist, wie ich unterstreichen möchte, die Perspektive eines Außenstehenden – als hätten wir es mit einer kulturellen Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft zu tun, zu der auch die Kontroverse zwischen Fundamentalisten und Modernisten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gehört, deren Wurzeln bis zum Bürgerkrieg der 1860er-Jahre zurückreichen.
Denn nur eine solche Hintergrundgeschichte kann das gewaltige Interesse erklären, das 1925 überall in den Vereinigten Staaten dem Scopes-Prozess entgegengebracht wurde, bei dem ein dreimaliger Präsidentschaftskandidat (William Jennings Bryan) die Anklage vertrat und die Reporter in Scharen nach Dayton, Tennessee, strömten, um über das Schauspiel zu berichten. Es war das erste Mal, dass ein Prozess in den Vereinigten Staaten im nationalen Rundfunk übertragen wurde. Der Scopes-Prozess hat den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Glaube jedoch nicht geschaffen; er hat ihn nur zu einem zugespitzten und polarisierenden Höhepunkt geführt. Das Problem mit zugespitzten, polarisierenden Höhepunkten besteht freilich darin, dass sie starken Symbolcharakter bekommen. Wie die antiken und modernen Märtyrer und eben auch die Bürgerkriege generieren sie Loyalitäten und Gegenloyalitäten: Du musst diese oder jene Position vertreten, ansonsten bist du ein Verräter.
Die Worte Clarence Darrows, der auf Scopes Seite das Verteidigerteam anführte, hören sich für jeden, der Richard Dawkins und seinesgleichen gelesen hat, ganz aktuell an: „Unser Ziel ist es, Heuchler und Ignoranten daran zu hindern, das Bildungswesen der Vereinigten Staaten zu kontrollieren.“ Die giftigen Kommentare eines herausragenden Journalisten wie H. L. Mencken kann man sich kaum erklären, es sei denn, man zieht in Betracht, dass der Prozess entlang einer der großen kulturellen Scheidelinien verlief, bei der die in ihren eigenen Augen aufgeklärten Stadtmenschen von der Ostküste auf die „Schwachköpfe“, „Bauern“, „Hinterwäldler“ und „Tölpel“ des ländlichen Tennessee herabschauten. Noch entscheidender ist, dass spätere Berichte über den Prozess die antievolutionäre Haltung mit dem Aufstieg des Ku Klux Klan in den Südstaaten in Verbindung brachten. Was ich damit sagen möchte, ist, dass diese große und schmerzhafte Wunde innerhalb der amerikanischen Gesellschaft im Grunde nur sehr wenig mit dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube zu tun hat, aber sehr viel mit der Art und Weise, wie die Vereinigten Staaten regiert werden und der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Sklaverei und der sozialen Stellung der Afroamerikaner. Diese Wunde hörte nicht auf zu eitern und wurde durch die Diskussion um Naturwissenschaft und Glaube oder um Evolution und Bibel nur noch tiefer und schmerzhafter.
Obwohl die Fragen selbst natürlich auch anderswo in der Welt wichtig sind, ist das meiner Ansicht nach die Ursache dafür, warum Amerikaner an dieser Stelle durch besonders schwere Zeiten gehen, die bis heute andauern. Wie ich bereits angedeutet habe, maßen führende konservative christliche Theologen nicht nur in Amerika den Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts keine besondere Bedrohung bei. Doch wie so oft wurde der Weg der Weisheit, der zu einem früheren Zeitpunkt vielleicht noch hätte beschritten werden können, nicht gewählt, stattdessen ist man in einen Krieg zwischen zwei Kulturen eingetreten, der – wie verschiedene tatsächliche Kriege – immer noch andauert, wobei sich auf beiden Seiten die Fronten verhärten.
Was ich in diesem ersten Teil eigentlich sagen möchte, ist, dass es der gegenwärtige amerikanische Kontext, in dem sich die genannten kulturellen Kriege in neuer Form widerspiegeln, den Amerikanern wesentlich schwerer macht, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Ich möchte damit nicht sagen, dass es anderswo keine Probleme gibt; natürlich gibt es die. Doch wenn im Vereinigten Königreich naturwissenschaftlich gebildete Theologen wie Alister McGrath oder John Polkinghorne in recht klarer Weise Wege vorschlagen, auf denen die beiden Welten weise und fruchtbringend zusammengedacht werden können, folgen die meisten von uns Nicht-Naturwissenschaftlern glücklich und zufrieden diesen Gedankengängen und sehen keinen Anlass dazu, irgendwelche Treueschwüre herauszuposaunen oder zu erklären, warum wir uns zu einer ganz neuen Denkweise bekehrt haben. All das sind für uns keine herausragenden kulturellen Themen. Sie sind auch nicht – wie meiner Erfahrung nach leider allzu oft in Amerika – direkt mit irgendwelchen beunruhigenden politischen Folgen verbunden. Natürlich sind die amerikanischen Problemlagen wichtig. Aber vielleicht hilft es, wenn man sich klarmacht, wie sehr sie mit größeren Themenbereichen verbunden sind und dass die hitzigen Diskussionen sich nicht unbedingt aus den eigentlichen Problemen, sondern aus den tieferen Hintergründen heraus speisen. Und das sage ich nicht, um einfach nur festzustellen: „Wir sehen das ein bisschen anders.“ Ich sage das vielmehr, weil die Gefahr besteht, dass Amerikaner ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass alle anderen ihre Probleme genauso betrachten sollten. Es ist wie in der alten Geschichte, in der eine Bande Jugendlicher einen älteren indischen Herrn in Belfast auf der Straße anhält. „Bist du Katholik oder Protestant?“, wollen sie von ihm wissen. „Ich bin Hindu“, antwortet er. „Okay“, geben sie zurück, „bist du dann ein katholischer oder ein protestantischer Hindu?“ Also, bin ich nun ein fundamentalistischer Kreationist oder ein atheistischer Naturwissenschaftler? Die Antwort lautet: Ich bin Brite.
Das Problem mit dem Epikureismus
Es gibt eine sehr viel längere Hintergrundgeschichte, die sowohl Europa als auch Amerika in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren beeinflusst, ja sogar beeinträchtigt hat. Ich beziehe mich dabei auf den Aufstieg und die enorme Macht einer philosophischen Denkrichtung, die ursprünglich einmal Epikureismus genannt wurde. Das ist vereinfacht gesagt eine Weltsicht, nach der es zwar vielleicht einen Gott oder mehrere Götter gibt, diese aber weit weg sind und keinerlei Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen. (Der Unterschied zwischen Epikureismus und Deismus besteht, wiederum vereinfacht gesagt, darin, dass der Gott der Deisten die Welt vermutlich am Anfang geschaffen und sich dann zurückgezogen hat, während der Gott der Epikureer mit Sicherheit weder die Welt geschaffen noch irgendetwas mit ihr zu tun hat.) Gott lebt also im obersten Stockwerk des großen Gebäudes, wir im Untergeschoss. Das Treppenhaus wurde zerstört und die Fahrstühle funktionieren auch schon lange nicht mehr.
Der grundlegende Gedanke ist: Das ganze Projekt, das wir unter dem Stichwort „Moderne“ kennen, in dem die europäische und die amerikanische Aufklärung eine Vorreiterrolle einnehmen, ist auf der Philosophie des Epikureismus aufgebaut. Die Folgen davon sehen wir nicht allein bei der Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube, sondern auch in vielen anderen Bereichen des Lebens, nicht zuletzt im politischen Bereich. Und damit kommen wir zu etwas, was für viele heute schockierend sein mag: Was normalerweise für die postdarwinistische Welt der Naturwissenschaften gehalten wird, ist keine neue Entdeckung. Der vielgepriesene Anspruch der Aufklärung, ein neues saeculum, ein neues Zeitalter eingeläutet zu haben (Das ist es schließlich, was auf den Dollarscheinen ausgesagt wird: „Novus ordo seclorum“. Es ist einer der atemberaubendsten Ansprüche, der jemals von einem jungen Staat aufgestellt worden ist. Ein Anspruch, der meiner Ansicht nach nur in dem Neustart des Kalenders durch die französischen Revolutionäre Seinesgleichen findet – deren Experiment allerdings scheiterte, während die Dollarscheine immer noch das neue Zeitalter proklamieren) – dieser vielgepriesene Anspruch der Aufklärung, eine ganz und gar neue Weltanschauung ins Leben gerufen zu haben, die auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut, ist schlichtweg Humbug. Vielmehr war Folgendes geschehen: Der Zug in Richtung epikureischer Philosophie hatte schon zuvor an verschiedenen Stellen Fahrt aufgenommen und die neuen Entdeckungen wurden als Beweis dafür gepriesen.


Eine Definition des Epikureismus
Was genau ist nun Epikureismus? Epikur war ein griechischer Philosoph, der im dritten Jahrhundert vor Christus lebte. Er hatte von der zwielichtigen Welt der heidnischen Religion im Allgemeinen und der des stoischen Pantheismus im Besonderen die Nase voll. Seiner Ansicht nach interessierten sich die Götter nicht für die Welt, sie griffen weder in den Lauf der Dinge ein, noch hielten sie über die Menschen nach deren Tod Gericht. Stattdessen ging alles seinen natürlichen Gang, ohne dass jemand von außen eingreifen musste. Und der physische Tod bedeutete weiter nichts als die komplette Auflösung des menschlichen Seins. Epikurs Philosophie oder jedenfalls ihren erwünschten Effekt kann man in einem Slogan zusammenfassen, den Richard Dawkins und seine Anhänger vor einigen Jahren auf die Londoner Busse plakatieren ließen: „Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Hör also auf, dir Sorgen zu machen, und fange an, das Leben zu genießen.“ Das Heidentum des alten Griechenlands erzählte Geschichten, die denen eines gewissen Pseudochristentums verblüffend ähnlich sind, denn darin ging es um Götter, die zornig sind auf dein gegenwärtiges Leben und dir damit drohen, dich nach deinem Tod lebendig zu verbrennen. Nein, verkündete Epikur, die natürliche Welt besteht einfach durch ein zufälliges Zusammentreffen von Atomen. (Mit „Atomen“ meinte er nicht genau dasselbe, was wir heute darunter verstehen, aber für unsere Thematik spielt das keine Rolle.)
Für Epikur gab es also nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Von ihm aus lässt sich damit eine direkte Linie zu John Lennon ziehen: Imagine there’s no heaven, no hell below us – stell dir vor, es gibt weder einen Himmel noch eine Hölle unter uns. Und nun lege los und lebe im Hier und Jetzt! Die Vorstellung von Epikur als einem Hedonisten ist angemessen, aber es handelte sich um einen sehr feinsinnigen Hedonismus, schließlich lehrte er auch, dass die offensichtlicheren körperlichen Vergnügungen ebenfalls vergänglich sind und darüber hinaus oft unangenehme Nebenwirkungen haben. (Eine Randbemerkung zu den Plakaten an den Londoner Bussen: Für den Oktober 2011 hatte der amerikanische Apologet William Lane Craig eine Debatte mit Richard Dawkins im Sheldonian Theatre in Oxford arrangiert, doch im letzten Moment zog Dawkins seine Zusage zurück. Die Organisatoren hingen deshalb in den Oxforder Bussen folgenden Spruch auf: „Es gibt wahrscheinlich keinen Dawkins. Hör also auf, dir Sorgen zu machen, und genieße den 25. Oktober im Sheldonian Theatre.“)
Der Philosophie Epikurs wurde durch den römischen Dichter Lukrez, der rund siebzig Jahre vor Jesus lebte, sehr viel neues Leben eingehaucht. Wie sein Meister hatte auch Lukrez die Nase voll von der römischen Religion, die lehrte, man solle die Götter fürchten und insbesondere den Tod und das, was danach kommen könnte. In einem erstaunlichen, poetischen Meisterstück, De Rerum Natura, Über die Natur der Dinge, stellte Lukrez Epikurs Gedanken dar, fügte noch ein paar eigene hinzu und beförderte dadurch das ganze Projekt, indem er zielgerichtet die intellektuellen und der Ästhetik zugeneigten Römer seiner Zeit ansprach. (Wann ist zum letzten Mal eine gewichtige Philosophie in Form eines langen Gedichtes erläutert worden? Mir fällt keine ein. Oder kann man Dante hierunter zählen?)
Bei Lukrez wird alles klar und eindeutig. Die Welt ist so wie sie ist, weil sie aus etwas besteht, was er Atome nannte, die frei durch den Raum fallen, miteinander kollidieren, sich unterei-nander verbinden und abstoßen. Offensichtlich gibt es verschiedene Sorten von Atomen, weshalb sie unterschiedliche Effekte auslösen. Große Veränderungen geschehen durch unerklärbare „Schübe“, die bei manchen Atomen gelegentlich passieren, sodass sie sich in eine andere Richtung bewegen und ein anderes Ergebnis dabei herauskommt. Doch der Hauptgedanke ist etwas, was wir heutzutage eine evolutionäre Vorstellung nennen würden: Das Leben auf der Erde hat sich in eigener Regie als zufälliges Nebenprodukt willkürlicher Atomkollisionen und -kombinationen zu immer komplexeren Lebensformen entwickelt. Die Götter gehören nicht ins Bild. Sie kommen gar nicht vor. Der Tod ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Nichts: Die Atome verteilen sich wieder und kombinieren sich nie wieder zu derselben Form.
Eine historische Randbemerkung: Vielleicht sollte ich sagen, dass es in der Antike wesentlich leichter war, Epikureer zu sein, wenn man wohlbetucht war. Wenn man dagegen einer der unteren Schichten angehörte – die 95 Prozent der freien Bevölkerung ausmachten – oder gar Sklave war, dann klang die Aufforderung, man solle sich entspannen und das Leben genießen, doch irgendwie ein bisschen hohl. Es ist interessant zu sehen, dass das Christentum sich besonders unter denen ausbreitete, denen die bereits existierenden philosophischen Richtungen nichts zu bieten hatten.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Epikureismus in dem neuen Europa, das im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert aus dem Mittelalter herauswuchs und sich einer blühenden Mittelklasse erfreute, die in Bildung investieren konnte, ein bemerkenswertes Comeback feierte. Er hörte auf, sein Schattendasein zu fristen, in das er von Christen und Juden in der Spätantike verbannt worden war. Diese Geschichte wurde erst vor Kurzem von Stephen Greenblatt in Die Wende wieder nacherzählt. Der Untertitel „Wie die Renaissance begann“ ist eine Übertreibung: Die Renaissance hatte viele Wurzeln. Wie dem auch sei, Greenblatt legt gute Gründe dafür dar, dass die Wiederentdeckung von Lukrez im Jahr 1417 ein entscheidender Augenblick war. Im spätmittelalterlichen Europa gab es viele Menschen, die wie Epikur und Lukrez von der tyrannischen und Furcht einflößenden Theologie, die ihnen beigebracht worden war, die Nase voll hatten. Die Vorstellung von einem Gott, der mit der Welt nichts zu tun hat, und von einer Welt, die nicht Engeln und Dämonen unterworfen ist und von ihnen manipuliert wird, sowie der Gedanke, dass das menschliche Leben etwas ist, was man unberührt von alledem feiern kann, boten eine sehr attraktive Alternative. Interessanterweise fand ein gewisser Poggio Bracciolini ausgerechnet im Jahr 1417 den lange verschollenen Text von Lukrez – also genau einhundert Jahre bevor ein gewisser Martin Luther auf eine Interpretation der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben stieß, die es ihm ebenfalls erlaubte, die Vorstellung von einem zornigen, rachsüchtigen Gott hinter sich zu lassen. (Oder etwa nicht?)
Dieses Ziel – den tyrannischen Boss im Himmel hinter sich zu lassen und daraufhin die Dinge anders anzugehen – inspirierte in der Folgezeit eine lange Reihe epikureischer Denker, angefangen von Hobbes und Machiavelli über die großen Denker der Aufklärung bis hin zu Thomas Jefferson höchstselbst. Die Aufklärung war aufs Ganze gesehen ein entschlossenes Vorgehen, um den großen, bösen Boss im Obergeschoss loszuwerden. Deshalb war auch das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 eine ihrer Hauptantriebskräfte. Wenn es so etwas wie einen guten Gott gegeben hätte, der die Dinge in der Hand hielt, dann hätte er so etwas mit Sicherheit nicht geschehen lassen, schon gar nicht an Allerheiligen, als sich alle in den Kirchen aufhielten, die dann über ihren Köpfen zusammenbrachen. Mit Voltaire und anderen zusammen schob Europa Gott also nach oben außer Sichtweite und viele in Amerika taten es den Europäern gleich.
Das Ganze ist eine faszinierende Geschichte, die allerdings zu lang und zu kompliziert ist, um sie hier kurz zu erzählen. Ich möchte unseren Blick besonders auf zwei Dinge lenken: Zum einen den Hauptgedanken von Epikur und Lukrez, deren Theorie über die herumirrenden und miteinander kollidierenden Atome in der Schöpfung und in der Kausalität keine Lücke ließ, in die irgendwelche göttlichen Wesen hineinschlüpfen konnten. Die Welt schuf sich selbst ohne irgendein fremdes Eingreifen. Diese Form des Atomismus fand seinen Weg in die Blutbahnen der europäischen Kultur, nicht nur lange bevor sich Charles Darwin mit der Beagle auf den Weg machte, sondern auch lange bevor sein Großvater Erasmus eine frühe Version von dem formulierte, was später die Evolutionstheorie werden sollte – damals im achtzehnten Jahrhundert in Lichfield, also fast unmittelbar neben dem Pfarrhaus, in dem ich fünf Jahre lang gewohnt habe.
Die Evolutionslehre wurde übrigens nicht nur nicht von Darwin selbst entwickelt; sie wurde noch nicht einmal von seinen Vorgängern in der Zeit der Aufklärung erdacht. Erfunden hat sie vielmehr Epikur (der dabei auf Demokrit und andere zurückblickte) und populär gemacht hat sie Lukrez. Sie ist und bleibt keine neue, moderne Entdeckung. Sie ist schlicht und einfach ein Aspekt einer der antiken Weltsichten. Seitdem hat sie verschiedene Wellen der Popularität erlebt, wobei sie gegenwärtig so weitverbreitet und langanhaltend ist, dass viele, nicht zuletzt viele der heutigen Naturwissenschaftler annehmen, sie sei die einzig mögliche Weltsicht. Das ist sie nicht; darüber werde ich später mehr sagen. Hier möchte ich nur das Urteil der Philosophin Catherine Wilson unterstreichen: In der modernen Welt „sind wir jetzt alle Epikureer“. Das ist unsere Standardeinstellung, traurigerweise ebenso für die meisten Christen, die sich gegen die moderne Naturwissenschaft aussprechen, wie für die Naturwissenschaftler, die gegen das Christentum auftreten. Das ist das Problem hinter all den kleineren und größeren Nahkämpfen über bestimmte Themen. Es gibt zwar noch genügend jüdische und christliche Anklänge in unserer Kultur, sodass sich die Leute noch an Gerüchte über eine andere mögliche Weltanschauung erinnern, dazu kommen Hinweise auf einen stoischen Pantheismus, nach dem Gott allgegenwärtig ist. Dennoch bleibt für die meisten Menschen die epikureische Sicht, wonach Gott weit weg und für uns unerreichbar ist, die Realität. Emily Dickinson fasste diesen Zwiespalt in einer berühmten Zeile (in einem Brief an Mrs J. G. Holland [L551] im Frühjahr 1878) mit folgenden Worten zusammen: „Die Leute sagen, dass Gott überall ist, und trotzdem stellen wir ihn uns immer irgendwie wie einen Einsiedler vor.“ Mit anderen Worten: Man erinnert sich noch an die Weltsicht des Stoizismus, lebt allerdings in der Wirklichkeit des Epikureismus.
Das Zweite, worauf ich in Bezug auf das Wiedererwachen des Epikureismus zu Beginn der Moderne und insbesondere in den Ursprüngen der Aufklärung hinweisen möchte, ist, dass man sich nicht zuletzt wegen seiner politischen Implikationen darauf gestürzt hat. Das ist schon bei Machiavelli und Hobbes deutlich zu erkennen, gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird es allerdings offensichtlich. Parallel zu der Vorstellung, dass die Atome einfach machen, was sie wollen, durch den Raum fallen, hierhin und dorthin schwingen, kollidieren, sich untereinander kombinieren, alles – und das ist wichtig – ohne äußere Kontrolle, vor allem ohne göttliche Kontrolle oder Eingreifen, lehnten die Denker der Aufklärung die überkommenen politischen Ideologien ab, nach denen die Adligen, insbesondere die Monarchen, die Dinge im Wesentlichen kontrollierten und die niedrigeren Stände sich anpassen mussten.
Die Ablehnung des großen „Tyrannen“ im Himmel und die Anlehnung an einen Atomismus, nach dem die Atome ohne Einfluss von oben tun, was sie wollen, finden ihre offensichtlichen Analogien im Aufstieg eines Systems, das wir heute als freiheitliche Demokratie bezeichnen. Das gottgegebene Recht der Könige ist verschwunden, es wurde in Frankreich von der Guillotine und in Amerika mit der Boston Tea Party beseitigt. Vox populi vox Dei, Volkes Stimme ist Gottes Stimme, ist zunächst der Schlachtruf – doch dann verschwindet der Deus selbst in weite Ferne, und alles, was uns bleibt, ist die vox populi. Willkommen in der schönen, neuen Welt des neunzehnten Jahrhunderts! Kein Wunder, dass die Evolutionslehre einen solchen Rückhalt fand. Sie hat im Grunde alles richtig gemacht. Sie behauptete, dass die natürliche Welt nicht statisch war, sondern sich im Fluss befand, und das war genau das, was viele Menschen im sozialen Bereich auch gerne gesehen hätten. Darwins Über die Entstehung der Arten erschien 1859, nur elf Jahre nach dem „Revolutionsjahr“ 1848. Niemand hörte auf die Einsprüche, die Alkuin schon im achten Jahrhundert vorgebracht hatte, wonach vox populi vox Dei nicht funktionieren kann, weil ein wütender Mob eine Form des Wahnsinns darstelle. Doch der einzige Wahnsinn, der den Mob von Boston bewegte, war der Wahnsinn König Georgs III.
Natürlich zeigt sich die Schwäche des Epikureismus als Philosophie im politischen Bereich, vielleicht sogar noch offensichtlicher als anderswo. Die politischen Analogien zu den fallenden und untereinander kollidierenden Atomen waren nicht immer schön anzusehen. Als Demokrat (aber nicht im parteipolitischen Sinne) möchte ich schnell hinzufügen, dass die Willkürherrschaften, die der modernen Demokratie vorausgingen, und die Willkürherrschaften, die das zwanzigste Jahrhundert besudelten, auch nicht schön anzusehen waren. Demokratie kann neue Formen der Tyrannei ins Leben rufen, und sobald wir unsere Seelen einer bestimmten Form des Wahlprozesses verschrieben haben, gibt es kein Zurück mehr. Wir müssen ans Reißbrett zurückkehren und uns überlegen, ob der natürlichen und angemessenen Leidenschaft für die Freiheit im Menschen und dem natürlichen und angemessenen menschlichen Bedürfnis nach Ordnung und Stabilität mit den demokratischen Formen, die wir entwickelt haben, am besten gedient ist, wenn sie ohne die Hilfe durch ein göttliches oder monarchisches Eingreifen nur auf dem Modell des Epikureismus aufgebaut sind, das sich als so populär und einflussreich erwiesen hat.
Die Beziehung zwischen dem Epikureismus und der Naturwissenschaft
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, wohin all das in Bezug auf die momentane amerikanische Situation führt. Zuerst ein paar Gedanken zur Beziehung zwischen dem antiken Epikureismus und der modernen Naturwissenschaft. Es kann gut sein, dass der aufgeklärte Epikureismus des achtzehnten Jahrhunderts die Tür zu neuen Denkrichtungen auf dieselbe Weise aufgestoßen hat wie der Epikureismus des fünfzehnten Jahrhunderts die Tür zu einigen Aspekten der Renaissance geöffnet hat. Doch wenn zum Beispiel behauptet wird, dass die Entdeckungen von Charles Darwin und anderen die Weltsicht bewiesen hätten, von denen diese Forscher ausgegangen waren – eine Weltsicht, die, wie ich betonen möchte, keine moderne ist, sondern nur die moderne Version einer antiken –, wird das nicht von den Fakten gestützt. Dabei geht es mir gar nicht um die Probleme, die nach Ansicht mancher mit der darwinistischen Weltsicht latent verbunden sind. Nehmen wir einmal an, dass sie sich alle lösen ließen, so bedeutet das immer noch nicht, dass die epikureische Weltsicht, nach der die Götter abwesend und die Atome unabhängig sind, auch korrekt ist. Das wäre nur dann der Fall, wenn es sich bei Ursache und Wirkung um ein Nullsummenspiel handelte, wenn also entweder Gott oder beobachtbare natürliche Fakten verantwortlich wären. Sobald man diese eher naive Annahme infrage stellt, stehen einem alle möglichen Optionen offen.
An dieser Stelle werden tatsächlich immer noch einige der scharfsinnigsten und ärgerlichsten Fragen gestellt. Wenn Sie Darwin unterstützen, hat mir neulich ein wütender Briefschreiber mitgeteilt, dann bedeutet das, dass Sie nicht an Wunder glauben – dann können Sie also nicht wirklich an die Auferstehung glauben oder die Jungfrauengeburt oder was auch immer. Mein Hauptproblem mit der ganzen Diskussion ist nun, dass das Wort Wunder, jedenfalls so, wie wir es im nachaufklärerischen Europa und Amerika verstehen, unausweichlich am impliziten Epikureismus unseres unbewussten Weltbildes Schiffbruch erleiden muss. So muss es auch dem Wort übernatürlich ergehen, das zwar auch schon lange vor der Aufklärung in Gebrauch gewesen ist, aber seitdem Resonanzen desselben Weltbildes angenommen hat. Das Problem kann man folgendermaßen zusammenfassen: In der Debatte um Naturwissenschaft und Glaube oder um Schöpfung und Evolution fällt es den Naturwissenschaftlern oder Evolutionsvertretern nur allzu leicht, ihre Position auf epikureische Weise auszudrücken, und die Christen beziehungsweise Kreationisten tun es ihnen gleich. Natürlich sind die Christen oder Kreationisten keine Epikureer im eigentlichen Sinn, eben weil sie an einen Gott glauben, der die Welt geschaffen hat und sie immer noch in Händen hält. Aber sie haben eine schwer beschädigte Sicht auf den Schöpfer und den Kosmos vom Deismus geerbt und arbeiten damit – eine Sicht, die schlimmste Züge des Epikureismus trägt, dass nämlich manche Dinge natürlicherweise geschehen, während andere Dinge nur deshalb geschehen, weil Gott es so will.
Ein besonders bezeichnendes Beispiel greife ich in meinem Buch „Glaube – und dann?“ auf, wo ich von etwas berichte, das im Januar 2009 in New York passiert ist. Während des Startes vom Flughafen La Guardia stieß ein Flugzeug praktisch sofort mit einem Schwarm Gänse zusammen. Der Pilot, Chesley Sullenberger III., traf blitzschnell einige Entscheidungen und vollführte innerhalb von ein paar Minuten ein Dutzend komplexer Flugmanöver, bis das Flugzeug schließlich sicher auf dem Hudson notwasserte. Eine Menge Leute nannten das ein Wunder und auch ich würde nicht eine Sekunde zögern, wenn es um die Frage geht, ob Gott dabei seine Hand im Spiel gehabt hat. Trotzdem gelang die Notlandung vor allem deshalb so sicher, weil Sullenberger schon seit mehr als dreißig Jahren verschiedene Motor- und Segelflugzeuge geflogen und als Fluglehrer gearbeitet hatte. Sein Charakter hatte sich dabei so geformt, dass ihm all diese komplexen Gedanken und Handlungen in Fleisch und Blut übergegangen waren. Mit anderen Worten: Beim Gebrauch des Wortes Wunder besteht die Schwierigkeit darin, dass wir von einem Entweder-Oder-Nullsummenspiel ausgehen. Entweder war es Gott oder der Pilot. Und es geht um diese Grundannahmen, die sowohl von nachaufklärerischen Christen als auch Säkularisten gleichermaßen geteilt werden, die vonseiten eines wirklich biblischen Weltbildes aber infrage gestellt werden müssen.
Zum Zweiten ein paar Gedanken zum politischen Hintergrund. Eines der größten Probleme, vor denen Amerikaner meiner Meinung nach heute stehen, besteht darin, dass die Diskussion um Naturwissenschaft und Glaube in einer Welt stattfindet, in der sich die analoge politische Situation in jedermanns Hirn und Herz eingegraben hat. Meiner Wahrnehmung nach hat Amerika die ausdrücklichste Form des Epikureismus in sein politisches System eingebaut, die es jemals in der schriftlichen Verfassung eines Landes gegeben hat. Gott und die Welt haben nichts miteinander zu tun, auch nicht Glaube und der öffentliche Raum, Religion und Bildung, Gebet und Schule – was auch immer. Und diese große Demokratie geht wie Lukrez’ Atome weiter ihren Weg, aus eigener Kraft, wobei sie gelegentlich auf unerklärliche Weise hin und her schwingt und es oft zu Kollisionen kommt, zu Verbindungen und sogar zu Verbrennungsprozessen bei den politischen Gegenstücken dieser Atome. Wenn man die Dinge so wahrnimmt, wie sie tatsächlich sind, ist es natürlich schwer, die Behauptung aufrechtzuerhalten, wonach die Demokratie einfach so da war und nur daraus besteht, dass individuelle Bürger in Bezug auf wichtige Themen Entscheidungen treffen. Wenn das so wäre, dann würden die Präsidentschaftskandidaten vermutlich darauf verzichten, im Wahlkampf Millionen auszugeben.
Selbstverständlich gab es viele, die versucht haben, die ganze Sache wieder zu dem Punkt zurückzudrehen, wo Gott und die Welt noch miteinander verbunden waren. Manchmal geschah das einfach nur aus pragmatischen Gründen, weil man schlichtweg erkannt hat, dass es nicht möglich ist, Gott aus dem öffentlichen Raum zu verbannen oder öffentliche Angelegenheiten aus dem der Kirche. Manchmal geschah es aus theologischen Gründen, weil man erkannt hat, dass der Gott der Bibel tatsächlich einen Herrschaftsanspruch über alle Bereiche des menschlichen Lebens erhebt. So wurde früher die christliche Rechte in Amerika dafür kritisiert, dass sie versucht hat, Religion wieder in die Politik einzuführen, während es im Vereinigten Königreich eher die christliche Linke war, die so etwas tat. Die Dinge sind heute auf beiden Seiten des Atlantiks ein bisschen komplizierter geworden. Trotzdem kämpft die amerikanische Kultur immer noch viel stärker als die britische gegen eine solche Vermischung.
Mein Punkt ist folgender: Wenn man versucht, in einem Umfeld eine Diskussion darüber zu führen, wie Gott mit der Welt verbunden ist, das mit jeder Pore seines Daseins annimmt, Gott habe mit der Welt nichts zu tun (per Definition und sogar durch eine gesetzliche Entscheidung bestätigt), dann haben wir es mit einer Opposition zu tun, die so tief in der Struktur unseres Denkens verwurzelt ist, dass die ganze Sache einfach nur schwierig werden muss. Meiner Ansicht nach ist es seltsam, wenn einige von denen, die darauf bestehen, dass Gott die Welt geschaffen hat und in ihr wirkt, ihn gleichzeitig als einen Gott betrachten, der eigentlich außerhalb des ganzen Prozesses steht und dennoch in ihn eingreift, obwohl der Epikureismus das nicht vorsieht. Im Grunde bestehen sie nämlich darauf, dass etwas wahr ist, was eigentlich strukturell und auf der Ebene der Vorannahmen für ganz und gar unmöglich und verfassungswidrig erklärt worden ist.
An dieser Stelle springt einem noch eine weitere soziale und politische Merkwürdigkeit ins Auge. Wie allgemein bekannt ist und von den Gegnern des Darwinismus immer wieder betont wird, übte der Sozialdarwinismus in der westlichen Kultur eine sehr große Macht aus. Tatsächlich gab es so etwas wie einen Sozialdarwinismus schon lange vor Darwin, wobei ich unterschiedliche Berichte darüber gelesen habe, ob Darwin selbst davon begeistert war oder ihn sogar übernommen hat. Doch ohne jeden Zweifel war der Sozialdarwinismus im frühen zwanzigsten Jahrhundert in Europa und vielleicht auch in Amerika weit verbreitet. Manche Menschen damals glaubten, dass ein großer Krieg von Zeit zu Zeit hilfreich sei, weil er das eigene Volk „reinige“ und dafür sorge, dass nur die besten durchkommen. Natürlich hat der Erste Weltkrieg die ganze Idiotie dieser Vorstellung aufgezeigt: Maschinengewehre töten wahllos die bestausgebildeten, intelligentesten und stärksten jungen Männer. Das hat den Sozialdarwinismus freilich nicht davon abgehalten, sich tief in die amerikanische Kultur einzugraben, vielleicht sogar noch tiefer als in alle anderen nachaufklärerischen Kulturen.
Der amerikanische Traum sieht im Grunde so aus: Wenn du dich aufraffst und loslegst, wirst du Erfolg haben. Dahinter steht die egalitäre Hoffnung, dass im ökonomischen Dschungel die Stärkeren überleben. Das ist jedoch schlichtweg eine Behauptung, eine unbewiesene Vorannahme, die zum Beispiel hinter den Bauchreaktionen gegen jegliche Pläne zur Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung steht: Wenn diese Leute stark genug wären, um auf eigenen Füßen zu stehen, dann würden sie doch für sich selbst sorgen können! Das funktioniert auch auf internationaler Ebene: Amerika ist zur führenden Supermacht herangewachsen. Wenn also ein Regime irgendwo auf der Welt Amerika nicht gefällt, dann hat Amerika – natürlich mit ein wenig Hilfe von seinen Freunden! – das Recht und die Pflicht, einzugreifen, Bomben abzuwerfen und einen Regimewechsel herbeizuführen. Die größte Ironie bei dieser ganzen Sache ist meiner Meinung nach, dass ausgerechnet diejenigen, die sich am meisten gegen Darwin aussprechen, wenn es um die Auslegung des ersten Kapitels der Genesis geht, seine glühendsten Anhänger sind oder jedenfalls Anhänger seiner Theorie, wenn es um soziale Belange oder internationale Politik geht.
Aus all dem ergibt sich für mich, dass die gesamte moderne westliche Welt tief von der Philosophie Epikurs und Lukrez’ durchtränkt ist. Das zu erkennen ist umso wichtiger, weil es unbewusst geschieht. Denn von der Wiege an – in manchen Fällen von der Wiege einer ganzen Nation an – wird den Menschen beigebracht, dass die neuen Wissenschaften und Technologien des achtzehnten Jahrhunderts eine neue Welt ins Leben gerufen hätten. Deren Bewohner seien auf ein neues Niveau des menschlichen Lebens gehoben worden, ein neues saeculum, dessen Bürger erwachsen und reif geworden seien und nun von dieser Warte aus auf ihre frühere Unwissenheit mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen zurückblickten. Innerhalb dieses aufklärerischen Weltbildes – was natürlich durch die unbestreitbare Tatsache an Plausibilität gewinnt, dass wir wirklich Millionen von Dingen entdeckt haben, von denen wir zuvor keine Ahnung hatten, angefangen von der DNA bis hin zur Atombombe, vom Luftverkehr bis hin zu Mikroprozessoren – wird den Menschen, die von antiker Philosophie nichts wissen, beigebracht, dass die Götter vielleicht existieren. Wenn, dann sind sie aber weit weg, insofern die Gerüchte über ihre Existenz nicht sowieso übertrieben sind. All das wird auf eine Weise vermittelt, als handele es sich dabei um eine neue Erkenntnis. Und viele von denen, die sich mit antiker Philosophie auskennen, sind gar nicht unglücklich darüber, dass der Epikureismus nun endlich nicht mehr nur die Philosophie einer kleinen Elite, sondern der breiten Massen geworden ist.
Manchmal bekommt man sogar mit, wie pseudochristliche Denker die neue Welt preisen, weil sie angeblich eine große Befreiung und neue Gelegenheiten für den Glauben gebracht habe. In einem Artikel feierte vor einigen Jahren ein führender jesuitischer Denker die Evolution, ohne sich überhaupt Gedanken über eine christliche Version davon zu machen. Vielmehr war sie für ihn nur Mittel zum Zweck, um verschiedene Lehren loszuwerden, die die traditionelle katholische Weltsicht auszeichnen, die er aber offensichtlich ablehnt – angefangen von Augustins Erbsündenlehre bis hin zu Anselms Erlösungs- bzw. Satisfaktionslehre – mit Konsequenzen für so unterschiedliche Bereiche wie die Sakramententheologie, die Ordination von weiblichen Priestern und die Sexualethik. So etwas führt natürlich auch zu gegenteiligen Effekten, weil viele innerhalb der christlichen Tradition sagen: Wenn die Annahme der Evolutionslehre so etwas nach sich zieht, dann müssen wir ihr anscheinend mit aller Kraft entgegentreten.
Mir geht es jedoch um Folgendes: Sobald wir den tiefverwurzelten Epikureismus in weiten Teilen unserer modernen westlichen Kultur erkannt haben, sind wir als christliche Denker dazu berufen, nicht einfach nur einen schnellen Kompromissfrieden damit zu schließen, sondern genau zu überlegen, wie wir eine wirklich christliche Weltsicht wieder neu formulieren und voranbringen können. Das eigentliche Problem besteht also nicht darin, dass wir es auf der einen Seite mit der Naturwissenschaft und auf der anderen mit dem Glauben zu tun haben, sondern es besteht darin, dass wir es auf der einen Seite mit einer Weltsicht zu tun haben, die Glaube und Naturwissenschaft auseinanderreißt (was sowohl Kreationisten wie Darwinisten schrill vor sich her posaunen), und auf der anderen mit einer, die genau das nicht tut. Damit müsste man eigentlich ein ganzes Buch füllen oder besser eine Reihe von Büchern; im Rest dieses Kapitels möchte ich jedoch wenigstens ein paar Grundzüge dieses Ansatzes skizzieren.
Eine christliche Antwort auf den Epikureismus
Was sollen und können wir also zu dem allen sagen? Die frohe Botschaft ist, dass die Philosophie, die die letzten zweihundert Jahre bestimmt hat, auch in der antiken Welt nicht unbekannt war, weshalb uns die Schriften der Kirche bei der Suche nach einer angemessenen Antwort darauf eine Hilfe sein können.

Die Antwort der frühen Christenheit
Die ersten Christen waren zumeist arm und ungebildet, weshalb sie keine detaillierte und wohldurchdachte Antwort auf die maßgeblichen philosophischen Ansätze ihrer Zeit entwickelten. Einige Hinweise auf solche Diskussionen finden wir zwar in den Briefen des Apostels Paulus und in seiner berühmten Rede auf dem Areopag, die eigentliche Diskussion kommt jedoch erst bei den Apologeten aus dem zweiten Jahrhundert und den Jahrhunderten danach auf, deren Schriften von einer tief greifenden Auseinandersetzung mit den griechischen und römischen Philosophien geprägt sind. Für die christlichen Apologeten als auch für jüdische Denker war der Epikureismus schlichtweg keine Option. Bis auf den heutigen Tag bedeutet das hebräische oder jiddische Wort apikoros „Irrlehrer“, also einer, der die Grundlagen des Glaubens verleugnet. Das liegt daran, dass die grundlegendste Lehre des Juden- wie des Christentums damals wie heute in der Überzeugung besteht, dass die Welt, mit der wir es zu tun haben, die gute und weise Schöpfung eines guten und weisen Gottes ist. Die Juden preisen diesen Gott als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Die Christen teilen diese Überzeugung, gehen aber noch weiter: Der Schöpfer ist der Vater des Messias Jesus, des Herrn.
Die ersten Christen haben keine ausgefeilte Schöpfungslehre entwickelt, nicht einmal Paulus selbst. Sie hatten das nicht nötig, weil sie schon eine übernommen hatten: die alte biblische Vision der Genesis. Wie wir jedoch alle wissen, besteht die Darstellung der Genesis aus einer sehr poetischen, sehr komplexen Erzählung, deren Hauptgedanken nichts mit der Zahl der Vierundzwanzig-Stunden-Perioden, in denen die Welt geschaffen wurde, zu tun hat, dafür aber sehr viel mit der Weisheit, Güte und Macht des Gottes, der sie geschaffen hat. Einer der Züge der Genesiserzählung, die mich als Nichtfachmann immer wieder faszinieren, ist folgender: Es wird von einem Gott berichtet, der die Welt so geschaffen hat, dass sie sich danach selbst weitererschafft: Bäume und Pflanzen bringen Frucht, damit daraus wieder Bäume und Pflanzen entstehen, und Tiere vermehren sich, ein jedes nach seiner Art. Und über allem steht der Mensch, der dazu berufen ist, Gott in die Welt hineinzuspiegeln und die Welt wiederum Gott anzubefehlen, der wie die Geschöpfe fruchtbar sein und sich mehren soll, um ein von Gott abhängiger Mitschöpfer zu werden.
Und so wie der Bericht vom Sündenfall in Genesis 3 neben dem Bericht von den rebellischen Engeln in Genesis 6 steht und den Leser damit zum Nachdenken herausfordert, ob das Böse nicht eher ein tief greifendes Geheimnis statt einer leicht erklärbaren (und lösbaren!) Störung ist, so folgen die Berichte über die Schöpfung in Genesis 1 und 2 nicht sauber aufeinander, sondern zeigen die Vision aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Tatsache, dass in Genesis 1 die Tiere vor den Menschen geschaffen wurden und in Genesis 2 der Mann vor den Tieren, ist eine klassische literarische Vorgehensweise, vielleicht sogar eine klassisch hebräische literarische Vorgehensweise, um deutlich zu machen, dass diese beiden Berichte so etwas wie Wegweiser sind, die auf eine dritte Wirklichkeit hindeuten, die nicht ausgesprochen wird, ja vielleicht nicht einmal ausgesprochen werden kann. Vielleicht ist diese darüber hinausgehende Wirklichkeit diejenige, auf die die Psalmen und das Buch der Sprüche hinweisen, wenn sie davon reden, Gott habe die Welt „durch Weisheit“ geschaffen. Und vielleicht ist es diese darüber hinausgehende Wirklichkeit, auf die sich Paulus, Johannes und der Hebräerbrief beziehen, wenn sie diese Hinweise aufgreifen und von Jesus selbst in der Sprache der Weisheit als von demjenigen reden, durch den alle Dinge gemacht sind.


Die Genesis und die christliche Weltsicht
Nach Lage der Dinge ist die Genesis in der antiken Welt als eine Geschichte über einen Gott betrachtet worden, der einen Tempel baut. Einen Tempel, in dem er nicht nur selbst wohnen will, sondern in dem er natürlich auch ein Bild von sich aufstellt, bevor er in ihn einziehen wird, um dort zur Ruhe zu kommen. Der Tempel, um den es hier geht, ist eine Kombination der Realitäten von Himmel und Erde, eine Konstruktion, in der Himmel und Erde weder wie im Epikureismus durch einen großen Graben getrennt sind noch wie im Stoizismus so miteinander verschmelzen, dass sie praktisch eins geworden sind. Gott ist im Garten gegenwärtig. Er ist ein naher und vertrauter Gott. Er geht dort in der kühlen Abendluft spazieren (Genesis 3). Es ist eine Welt, in der Gott Gott bleibt und die Menschen Geschöpfe, in der jedoch Gottes Bereich, der Himmel, und der menschliche Bereich, die Erde, einander durchdringen und so angelegt sind, dass sie füreinander durchlässig sind.
Eine Erklärung für die Phänomene, die zum Aufstieg des Epikureismus führten, besteht darin, dass sich nach den Ereignissen in Genesis 3, als was auch immer sie zu verstehen sind, so etwas wie ein Gefühl der Entfremdung eingestellt hat, das den Menschen vor eine Entweder-Oder-Entscheidung stellt: Entweder man gibt zu, dass etwas schiefgelaufen ist, und versucht um jeden Preis die Beziehung wiederherzustellen, oder man entwickelt eine Theorie, nach der es immer schon einen tiefen Graben zwischen den Göttern und der Welt gegeben hat, womit man freilich einen ontologischen, seinsmäßigen Graben da postuliert, wo die Genesis einen moralischen und geistlichen sieht. Entscheidend ist aber nicht die Frage, wie man den Graben erklärt, sondern wie man ihm begegnet. Die Stoa antwortet auf die Epikureer, indem sie das Problem leugnet: Die Gottheit ist in der Welt und in uns gegenwärtig, und wenn dir das nicht gefällt, ist das dein Problem. Juden- wie Christentum antworten jedoch klassischerweise auf beide Philosophien, indem sie die geheimnisvolle gegenseitige Durchdringung von Himmel und Erde weiterhin feiern und erkunden. Einer meiner Lieblingsabschnitte der Psalmen steht in Psalm 65, in dem das Hochgefühl beschrieben wird, wenn die üppige Schönheit des jungen Morgens und des späten Abends als Feier der Weisheit des Schöpfers wahrgenommen werden:

Du hast die Berge durch deine Macht gebildet und dich mit großer Kraft umgeben.
Du hast die Ozeane mit ihren tosenden Wellen besänftigt und die Völker zum Verstummen gebracht.
Die am Ende der Erde leben, stehen in Ehrfurcht vor deinen Wundern. Vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang gibst du den Menschen Grund zur Freude.
(Psalm 65,7-9. Neues Leben Übersetzung)

Der Psalm fährt fort und erzählt in einer Sprache, die an Genesis 2 erinnert, davon, dass Gottes Flüsse voller Wasser sind und eine reiche Ernte ermöglichen, was die Weiden, die Hügel, die Wiesen und Täler jubeln lässt. Je älter ich werde, desto mehr wird mir klar, dass es sich dabei nicht einfach nur um poetische Sprache handelt. Juden und Christen sind gleichermaßen dazu aufgefordert, sich gegenseitig immer wieder an die nicht endende Lobeshymne zu erinnern, die von der unbeseelten Schöpfung zu ihrem Schöpfer aufsteigt, wenn die Himmel die Ehre Gottes erzählen und das Firmament seiner Hände Werk verkündigt. Er gibt den jungen Raben Speise, wenn sie zu ihm rufen. Die moderne Wissenschaft mag den hungrigen Schrei der Raben für etwas halten, was wir Instinkt nennen, und dagegen habe ich auch nichts, doch wenn wir innerhalb eines epikureischen Denkmodells vom „Instinkt“ sprechen, reduzieren wir automatisch die Wirklichkeit. „Die Welt ist mit der Herrlichkeit Gottes aufgeladen“, sagte Gerard Manley Hopkins – und Hopkins war alles andere als Pantheist.
Was wir durch das ganze Alte und Neue Testament hindurch finden, ist vielmehr eine reiche Schöpfungstheologie, nach der die gesamte Erde schon jetzt mit der göttlichen Herrlichkeit erfüllt ist – das ist es schließlich, was durch die Seraphim in Jesaja 6 besungen wird – und nach der die gesamte Erde gleichermaßen in der Zukunft mit der Erkenntnis JHWHs (Jahwes) oder mit der Erkenntnis der Herrlichkeit JHWHs erfüllt werden wird, so wie das Wasser das Meer bedeckt (Jesaja 11,9; Habakuk 2,14). Der Gedanke, dass die ganze Welt mit der Herrlichkeit des Schöpfers erfüllt werden wird, verbindet sich mit der Vision von der Schöpfung als Tempel. Der erste große Erzählkreis der Bibel, der sich von Genesis 1 und 2 bis zum Ende des Buches Exodus erstreckt, berichtet davon, wie der Schöpfer und Bundesgott trotz Israels Sünde und Götzendienst in der neu errichteten Stiftshütte Einzug hält und sie mit seiner herrlichen Gegenwart anfüllt (Exodus 40). Als lange Zeit später der Tempel in Jerusalem gebaut wird, geschieht genau dasselbe (1. Könige 8). Diese Gegenwart Gottes verließ ihn wieder zur Zeit des babylonischen Exils, die Propheten versicherten Israel jedoch, dass die göttliche Pracht eines Tages wieder zurückkommen werde. Die Schreiber des Neuen Testaments verkündigen auf vielfältige Weise, dass genau das passiert sei – im Messias Jesus und durch die Gabe des Heiligen Geistes. Jesus selbst ist der wahre Tempel, aber auch die, die seinen Heiligen Geist empfangen, werden zu lebendigen Tempeln.
Auf diese Weise erfüllt sich Jesajas Prophetie, wonach die Herrlichkeit Gottes allem Fleisch offenbar werden soll – die Verheißung eines neuen Tempels, einer neuen Schöpfung, an der teilzuhaben alle eingeladen sind. All das ist wahr geworden, sagt das Neue Testament, zuerst in Jesus und dann im Geist. Und das bedeutet, dass alles, was wir über die Beziehung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und der Welt, zwischen Glauben und Naturwissenschaft, zwischen Frömmigkeit und öffentlichem Leben sagen können – über all diese analogen Fragen, die die westliche Moderne verwirren –, dass sie alle ihre Antwort in Jesus finden. Doch es hilft (meiner Erfahrung nach) wenig, das zu sagen. Es hört sich zwar fromm an und lässt sich von einem Christen auch kaum bestreiten, bleibt jedoch eine so dichte Aussage, dass man sie kaum durchdringen und verstehen kann. Denn was ist damit eigentlich gemeint? Manche haben gesagt, dass die Christologie ein Weg ist, auf dem die jeweiligen Welten von Naturwissenschaft und Glauben zusammengeführt werden können. Ich mache hier denselben Vorschlag, aber innerhalb eines Denkrahmens, der meiner Meinung nach einen umfassenderen Zugang zur eigentlichen Christologie darstellt.


Jesus leitet eine neue Schöpfung ein
Im Ansatz bedeutet das, dass wir die großen neutestamentlichen Behauptungen über Jesus und die Schöpfung anders lesen müssen. Wir haben bisher Johannes 1, 1. Korinther 8,6, Kolosser 1 und Hebräer 1 in einer Weise gelesen, als würden hier einfach nur großartige Aussagen über Jesus gemacht – so, als wüssten wir, was die Schöpfung ist, und müssten nun nur noch entdecken, wer Jesus ist, indem wir gesagt bekommen, dass „durch ihn alles gemacht wurde“. Doch mit den christologischen Aussagen in Bezug auf die Schöpfung verhält es sich wie mit der Christologie im Allgemeinen: Vielleicht wissen wir ja noch gar nicht, was die Schöpfung ist, genauso wenig, wie wir vorher gewusst haben, wer Gott ist. Vielleicht bekommen wir diese berühmten Abschnitte überhaupt nur deshalb erzählt, damit wir uns auf die Suche nach einer alternativen Schöpfungsvorstellung, einer Kosmogonie, begeben, die uns durch die eingehendere Beschäftigung mit Jesus ermöglicht wird.
An dieser Stelle bekommen wir es mit einem gigantischen Problem zu tun, weil die westlichen Schriften über Jesus auf drastische Weise von genau dem Epikureismus entstellt worden sind, den wir bekämpfen wollen. Jesus wurde in diese und jene Richtung gerissen: Die Naturalisten wollten aus ihm einen weiteren großen religiösen Lehrer machen (oder vielleicht einen weiteren großen politischen Revolutionär), die Supernaturalisten hingegen wollten aus ihm den göttlichen „Eroberer“ aus dem „Jenseits“ machen, der Wunder tat, um seine übernatürlichen Kräfte zu beweisen, und uns dazu aufruft, diese Welt zu verlassen und mit ihm in die seine zurückzukehren. Diese Vorstellungen spiegeln nur das falsche Entweder-oder des Epikureismus wider, insbesondere tut das die Pseudoeschatologie der Entrückung, wie sie im Dispensationalismus gelehrt wird. Nichts von alledem wird in irgendeiner Weise historisch oder theologisch dem gerecht, was die vier Evangelien aussagen.
Die vier Evangelien erzählen in derselben Linie wie z. B. die Genesis, die Psalmen und Jesaja davon, wie Gott König wurde, wie der Schöpfergott in und durch Jesus von Nazareth sein Neuschöpfungsprojekt für die Welt startete. Auf jeder Seite geht es den Evangelien um die neue Schöpfung, nicht nur um eine neue Spiritualität, mit Sicherheit auch nicht um ein System, mit dem Menschen aus dieser Welt heraus gerettet werden, sondern um eine Bewegung von Gottes schöpferischem Geist. Dieser hat Jesus gesalbt, ist aber zugleich auch von ihm ausgegangen. Durch ihn werden Menschen berufen, endlich wirklich Menschen zu werden – befreit von allem, was das verhindert –, und dazu ausgerüstet, Gottes Pläne für eine neue Schöpfung voranzubringen. Wieder einmal erneuert Gott die Welt, aber nicht durch eine Intervention, die alles andere auslöscht, wie es manche supernaturalistischen Endzeitfahrpläne behaupten. Auch nicht, indem er der Natur einfach ihren Lauf lässt, wie manche evolutionistische Darstellungen – inklusive mancher pseudochristlicher evolutionistischer Darstellungen! – behaupten. Er tut das stattdessen durch einen Akt der erlösenden Neuschöpfung, durch den die Menschen wieder in die Lage versetzt werden, Gott in seine Welt hineinzuspiegeln und die Welt im Lobpreis zurück an Gott. Das ganze Projekt Jesu ist das Projekt eines neuen Tempels, weshalb sowohl der Jerusalemer Tempel als auch die heidnischen Tempel in den Evangelien und der Apostelgeschichte mit Vorbehalt gesehen werden. Es ist mit anderen Worten ein Projekt, bei dem Himmel und Erde schlussendlich zusammengebracht werden, damit sich Gottes souveräne Herrschaft auf Erden wie im Himmel ausbreitet durch die Mission Jesu, die ihren Höhepunkt in seinem Tod und seiner Auferstehung findet – und dann auch durch den ähnlich gearteten und geistgeleiteten Auftrag seiner Nachfolger.
Wenn wir wirklich einen Quantensprung in der Debatte um Naturwissenschaft und Glaube machen wollen, müssen wir meiner Ansicht nach eingehender die vier Evangelien und ihre Geschichte von Jesus studieren, in der es darum geht, wie er das Reich Gottes anbrechen lässt, am Kreuz stirbt und als Erstlingsfrucht der neuen Schöpfung aufersteht. Wir müssen uns selbst fragen, wie der neue Tempel, die neue Realität von Himmel und Erde und die neue Schöpfung aussehen, die Jesus vorgelebt und angestoßen hat. Innerhalb dieser Realität geht es nicht einfach nur darum, wie man die atheistische Naturwissenschaft mit einem rationalistischen Christentum versöhnen kann, etwa indem man beide in getrennten Sphären zu Hause sein lässt oder indem man versucht, beide auf unpassende Weise miteinander zu versöhnen. Das würde nur die sorgsam trennende Weltanschauung des Epikureismus weiter fortführen, die, wie ich gezeigt habe, immer schon das Problem gewesen ist, genauso wie es die Diskussionsbeiträge sind, die aus Jesus entweder einen Supermann oder einfach einen der vielen „großartigen Lehrer“ machen.
Wenn wir allerdings über eine Wiederherstellung und Wiederverbreitung der christlichen Weltsicht in der westlichen Welt reden, dann müssen nicht nur Glaube und Naturwissenschaft neu durchdacht werden. Dann geht es um die ganze Art und Weise, wie wir Gesellschaft und Politik betreiben, um das persönliche Leben und nicht zuletzt um die gemeinsame Verantwortung innerhalb der globalen Familie. Wenn wir uns Jesus als Muster und Anfang der neuen Schöpfung aufmerksam zuwenden und auf diese Weise lernen, was es bedeutet, dass „in ihm alles geschaffen wurde“ – mit anderen Worten, wenn wir uns ernsthaft und aufrichtig um eine christliche Kosmogonie bemühen –, dann sollten wir damit rechnen, auch auf anderen Ebenen herausgefordert zu werden. Das ist freilich etwas, was wir als Nachfolger Jesu – und als Vertreter aufrichtiger Wissenschaft – erwarten sollten.
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