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Ein letzter Flug

Ein letzter Flug

vonAustin, Lynn | Dziewas, Dorothee
Deutsch, Erscheinungstermin Januar 2018
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Die zurückgezogen lebende Musikprofessorin Wilhelmina Brewster ist ihr ganzes Leben auf Nummer sicher gegangen. Risiko, Abenteuer und Spontaneität sind Fremdwörter für sie. Doch dann lernt sie den lebenshungrigen und unternehmungslustigen Piloten Mike Dolan kennen. Eigentlich will sie ihm nur einen frommen Flyer...

Informationen zum Titel

978-3-86827-697-8
Marburg
Januar 2018
2018
1
Auflage
Buch (gebunden)
334 g
247
126 mm x 193 mm x 27 mm
Color of cover: Grey, Color of cover: Silver, Color of cover: Tan, Color of cover: White
Deutsch
eng
Zeitgenössische Liebesromane, Belletristik: religiös, spirituell, Moderne und zeitgenössische Belletristik
Die zurückgezogen lebende Musikprofessorin Wilhelmina Brewster ist ihr ganzes Leben auf Nummer sicher gegangen. Risiko, Abenteuer und Spontaneität sind Fremdwörter für sie. Doch dann lernt sie den lebenshungrigen und unternehmungslustigen Piloten Mike Dolan kennen. Eigentlich will sie ihm nur einen frommen Flyer zustecken, um sich dann wieder in ihr geordnetes Leben zurückzuziehen. Aber es kommt ganz anders: Plötzlich findet Wilhelmina sich in einem Heißluftballon-Wettbewerb wieder, sie geht mit Mike angeln und lässt sich auf allerlei andere verrückte Ideen von ihm ein. Kann es sein, dass das Leben so viel mehr bereithält, als sie bisher gedacht hat? Und kann es sein, dass sie und Mike beide voneinander lernen können, worauf es wirklich ankommt?
Lynn Austin ist eine weltweit bekannte Bestsellerautorin. Mit Titeln wie "Die Apfelpflückerin", "Luisas Töchter" oder "Im Sand der Erinnerung" schrieb sie sich in die Herzen ihrer Leser. Sie wurde für ihre historischen Romane achtmal mit dem Christy Award ausgezeichnet, dem bedeutendsten christlichen Romanpreis in den USA, und ist eine gefragte Rednerin bei Tagungen und Konferenzen. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin. Lynn und ihr Mann haben drei Kinder großgezogen und leben in Holland, Michigan. Mehr erfahren Sie unter www.lynnaustin.org.
1. Kapitel

Mittwoch, den 2. September 1987

Mike Dolan schlief noch, als das Telefon klingelte. Er drehte sich auf die Seite, um auf den Wecker an seinem Bett zu schauen, und stellte erschrocken fest, dass er verschlafen hatte. Es war schon eine Stunde später als gedacht. Schläfrig wankte er in die Küche, um nach dem Wandtelefon zu greifen, während er jedes seiner fünfundsechzig Lebensjahre spürte und fast über seine vierbeinigen Mitbewohner Buster und Heinz stolperte, die ihm in die Quere kamen. Bevor er sich meldete, räusperte er sich, um den Schlaf aus seiner Kehle zu vertreiben. „Hallo?“
„Hallo, Dad. Wir haben gerade eine Last-minute-Anfrage für einen Charterflug reinbekommen. Ich bin schon für die Angelgruppe gebucht, aber willst du das übernehmen?“
Mike streckte die Hand aus, um Buster am Kopf zu kraulen. „Um wie viel Uhr?“
„Jetzt gleich. Sobald du hier am Flugplatz bist, geht es los. Der Typ sagt, er muss sofort nach Springfield. Aber er will, dass du dort auf ihn wartest – er sagt, er braucht eine Stunde, vielleicht anderthalb – und ihn dann wieder nach Hause fliegst.“
„Hat er gesagt, worum es geht? Warum der Auftrag in letzter Minute kommt?“ Mike versuchte Zeit zu schinden, während er die Flugzeiten im Kopf überschlug. Um vier Uhr nachmittags hatte er einen Arzttermin, von dem sein Sohn nichts wissen sollte.
„Keine Ahnung. Aber du hast doch heute nichts vor, oder? Jedenfalls steht nichts im Kalender.“
„Stimmt. Gut, sag ihm, ich bin in einer Stunde am Flugplatz.“ Mike legte auf. Je eher er seinen alternden Körper in Bewegung setzte, desto größer war die Chance, dass er bis vier Uhr zurück war. Er öffnete die Gartentür, um die Hunde hinauszulassen. Dann zog er sich schnell an. Vielleicht war dieser unerwartete Charterflug ja genau das, was er jetzt brauchte – etwas, das ihn an diesem Tag beschäftigte und seine Gedanken von dem ablenkte, was der Arzt vielleicht zu sagen hatte.
Neunzig Minuten später hatte Mike die Wetterbedingungen überprüft, den Flugplan gemeldet und alle Tests durchgeführt, die er vor jedem Flug absolvieren musste. Jetzt half er Mr Blake in eines der Charterflugzeuge von Dolans Flug- service. Blake war um die vierzig, hatte eine steinerne Miene und trug einen teuren Nadelstreifenanzug. Verkrampft hielt er einen Aktenkoffer umklammert. „Müssen Sie geschäftlich nach Springfield?“, fragte Mike. Mit den Jahren hatte er gelernt, dass es manchmal half, nervösen Fluggästen die Angst zu nehmen, wenn man mit ihnen plauderte.
„Es ist privat.“ Blake legte den Sicherheitsgurt an und öffnete seinen Aktenkoffer, ohne Mike auch nur eines Blickes zu würdigen. So wie er seine Unterlagen aus dem Koffer holte, um darin zu lesen, hatte Mr Blake kein Interesse an einer Unterhaltung.
„Es müsste eigentlich ein schöner, ruhiger Flug werden“, sagte Mike, während er seinen eigenen Sicherheitsgurt befestigte. „Und ein toller Ausblick. Die Blätter an den Bäumen verfärben sich schon. Ich werde es nie leid, sie aus der Luft zu betrachten.“ Er rangierte, beschleunigte die Maschine und hob ab, ohne eine Antwort zu erwarten. Er erhielt auch keine.
In Springfield wartete schon ein Mietwagen mit laufendem Motor auf Mr Blake. „Ist es in Ordnung, wenn ich den Aktenkoffer im Flugzeug lasse?“, fragte Blake, während er an dem kleinen Rädchen drehte, um den Koffer zu verschließen.
„Klar. Das Flugzeug und ich werden hier auf Sie warten.“
Blake sah auf seine Uhr. Als er Mike darüber informiert hatte, dass er in maximal neunzig Minuten zurück sei, fuhr er davon. Zum ersten Mal, seit er heute Morgen das Haus verlassen hatte, musste Mike an seinen Arzttermin denken. Dabei zog sich sein Magen zusammen. Er rückte seine Base- ballkappe zurecht und schlenderte in den Hangar, um jemanden zu suchen, mit dem er eine Runde plaudern konnte.
Neunzig Minuten später, beinahe auf die Sekunde genau, hielt der Mietwagen mit quietschenden Reifen. Wieder war Blake während des gesamten Fluges in seine Papiere vertieft und schien den weiten blauen Himmel über ihnen oder die in bunte Herbstfarben getauchten Hügel unter ihnen gar nicht zu bemerken. Erst als sie gelandet waren, sprach er wieder.
„Es könnte sein, dass ich Ihre Dienste noch einmal kurzfristig in Anspruch nehmen muss“, sagte er. „Ich weiß noch nicht wann.“ Dann sah er auf seine Armbanduhr. „Man sagte mir, mein Vater werde bald sterben. Zur Beerdigung muss ich noch einmal hin- und zurückfliegen.“
„Das tut mir sehr leid“, sagte Mike. „Den Vater zu verlieren – das ist hart.“ Er hätte gerne gefragt, wie lange Mr Blakes Vater schon krank war und ob die beiden sich nahestanden und wie er die tragische Nachricht verkraftet habe. Er suchte in der Miene des anderen Mannes nach Anzeichen der Trauer. Er würde ihm bereitwillig zuhören, falls Mr Blake reden wollte. Stattdessen sah er nur kalte Ungeduld.
„Der Zeitpunkt ist wirklich denkbar ungünstig“, knurrte er. „Ich habe im Moment schrecklich viel Arbeit. Heute Morgen habe ich deswegen sogar eine wichtige Sitzung verpasst.“
Mike wollte gerade sagen, dass der Tod kaum jemandem gelegen kam, aber er verkniff sich die Bemerkung. „Ich nehme an, Ihre Arbeit ist sehr wichtig“, sagte er stattdessen.
„Das ist sie.“ Ohne ein Wort des Dankes drehte Blake sich um und ging zu seinem Wagen.
Gerade als die Sonne hinter einer Wolke verschwand, betrat Mike das Büro, das er sich mit seinem Sohn teilte. Steve und er führten den Flugservice gemeinsam, ein schönes kleines Unternehmen, das Mike irgendwann seinen Enkeln vermachen wollte. Schade, dass Steve nicht an seinem überladenen Schreibtisch saß oder an dem Motor seiner Flugzeuge he- rumbastelte. Nach der unterkühlten Begegnung mit Mr Blake hatte Mike das Bedürfnis nach der Wärme und Lebendigkeit seines Sohnes. Aber Steve war auch bei der Arbeit und flog die Anglergruppe.
Mike sank auf den Schreibtischstuhl und fühlte sich mit einem Mal erschöpft. Er musste gleich zu seinem Arzttermin aufbrechen, aber jetzt schloss er die Augen und fragte sich, ob der eilige Besuch seines Sohnes den schwerkranken Mr Blake aufgemuntert und ob er sich darüber gefreut hatte. Mike hoffte von ganzem Herzen, dass der sterbende Mann nicht gespürt hatte, wie ungelegen seinem Sohn sein Tod kam.



Wilhelmina Brewster trug noch Bademantel und Schlafanzug, als die antike Kaminuhr ihrer Großmutter die volle Stunde schlug. Zwölf Schläge zählte sie. Mittag. Und Wilhelmina war noch nicht einmal angezogen. Gestern hatte sie auch den ganzen Tag im Schlafanzug verbracht. Als sie noch ein Kind war, hätte nichts außer einer Krankheit als angemessene Ausrede für ein solch liederliches Verhalten gezählt, aber sie war nicht krank. Hätte jemand sie nach dem Grund gefragt, hätte Wilhelmina verächtlich geschnaubt und erwidert: „Warum um Himmels willen soll ich mich denn anziehen, wenn es nichts gibt, was ich tun kann, und keinen Ort, wohin ich gehen könnte?“
Jetzt starrte sie aus dem Wohnzimmerfenster auf den Ahornbaum, dessen Blätter sich allmählich verfärbten. Der Herbst war für Wilhelmina immer eine erfüllende Zeit gewesen; sie hatte Vorlesungen vorbereitet, Konzerte geplant, Studierende beraten, Konzertvorspiele angehört und Mühe gehabt, ihrem viel zu vollen Terminkalender gerecht zu werden. Aber nicht in diesem Jahr. Nach einundvierzig Jahren als Musikprofessorin am Faith College war sie im vergangenen Frühjahr fünfundsechzig geworden und hatte damit das Alter erreicht, in dem sie zwangsweise in den Ruhestand verabschiedet worden war.
Sie nahm sich das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte, wieder vor, aber ihre Gedanken waren nicht bei dem Text, sondern zehn Kilometer entfernt auf dem Campus des Colleges. Während sie an ihr ehemaliges Büro dachte und sich fragte, wer jetzt auf ihrem Flügel Etüden übte, fiel Wilhelmina siedend heiß ein, dass sie heute tatsächlich irgendwohin musste und einen sehr guten Grund hatte, sich anzuziehen. Schon vor Wochen hatte sie eingewilligt, an diesem Nachmittag ein inoffizielles Klavierkonzert im Krebsberatungszentrum zu geben. Die Stücke, die sie spielen wollte, lagen ordentlich gestapelt auf dem Tisch neben ihrem Klavierhocker. Wilhelmina erhob sich aus dem Sessel, legte das Buch beiseite und schüttelte ihre melancholischen Gedanken von sich ab, um anschließend hinaufzueilen, ein Bad zu nehmen und ihren dunkelbraunen Hosenanzug anzuziehen.
Natürlich war sie mehr als pünktlich – eine halbe Stunde zu früh, um genau zu sein –, und als sie den schäbigen Raum sah, in dem man eine Handvoll Liege- und Klappstühle für das Publikum aufgestellt hatte, und das alte Klavier an einer fensterlosen Wand, spürte sie, wie ihre Stimmung wieder in Richtung Trübsinn sank. Sie würde mit dem Rücken zum Publikum spielen müssen und es war fraglich, ob sich der Klang dabei entfalten konnte. Oder ob die Pedale überhaupt funktionierten. Den Hocker konnte man nicht in der Höhe verstellen – und Wilhelmina war überdurchschnittlich groß. Trotzdem schwor sie sich, dass sie so gut spielen würde, wie sie konnte.
Wie viele Konzerte hatte sie im Laufe der Jahre schon gegeben? Beinahe lächelte sie, als sie daran dachte, wie viel Freude ihr diese Auftritte gemacht hatten. Vielleicht würde ihr der Auftritt heute ja auch Freude bereiten. Dann verging ihr das Lächeln, als sie an ihre Brüder dachte. Sie würden sagen, dass es unter ihrer Würde sei, in einem so schäbigen Aufenthaltsraum für Patienten zu spielen. „Wo soll das noch hinführen“, würden sie fragen, „dass du in irgendeiner zwielichtigen Bar am Klavier sitzt, auf dem ein Teller für Trinkgeld steht?“
Wilhelmina setzte sich auf den wackeligen Klavierhocker und stellte gerade ihre Noten auf den Ständer, als der Leiter des Beratungszentrums herbeigeeilt kam. „Professor Brewster! Herzlichen Dank, dass Sie heute für uns spielen. Sie haben mit Ihrer Arbeit am College bestimmt alle Hände voll zu tun, aber ich bin sicher, alle hier werden sich freuen, Sie zu hören.“
Wilhelmina konnte nur nicken, während sie sich auf die Unterlippe biss, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr in den Augen brannten.



Um vier Uhr saß Mike Dolan im Behandlungszimmer und knetete seine Baseballkappe in seinen Händen. Jeden Augenblick konnte der Arzt hereinkommen und würde Mike mit seinem Schicksal konfrontieren. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her und wünschte, er könnte aufstehen und durch ein paar Schritte seine Nervosität ein wenig lindern, aber der Raum war zu klein. Die Urkunden an den Wänden hatte er längst eingehend studiert, aber von seiner Angst konnten sie ihn nicht ablenken. Zudem hatte er sie aufgrund der vielen Fremdwörter kaum verstehen können.
Schließlich stand er doch auf, streifte seine Arbeitsschuhe ab und stieg auf die Waage, die in dem Behandlungsraum stand. Er schob die kleinen Gewichte hin und her, bis sie im Gleichgewicht waren. Knapp vierundsiebzig Kilo. Nicht gut. Er hatte schon wieder abgenommen. Er überlegte, mit der Größenanzeige zu spielen, aber er wusste schon, was die ihm sagen würde. Er war genau eins zweiundsiebzig groß, ohne Schuhe. Vor etwa vierzig Jahren hatte er mit seinem athletischen Körperbau vielen Mädchen den Kopf verdreht, vor allem, wenn er die Pilotenuniform der US Air Force getragen hatte. Er blickte in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing, und strich sich über den Kranz aus weißen Haaren. Jedes Jahr in der Weihnachtszeit versuchten seine Enkelkinder ihn davon zu überzeugen, er solle doch seinen Bauch ausstopfen, sich einen weißen Bart wachsen lassen und im Einkaufszentrum den Nikolaus spielen. „Du wärst genau der Richtige, Grandpa“, behaupteten sie steif und fest. Er betrachtete sein Spiegelbild und strich sich über das glatt rasierte Kinn. Dem Nikolaus ähnlich zu sehen, war eigentlich gar nicht so schlecht, beschloss er. Mit einem müden Stöhnen setzte Mike sich wieder hin und bückte sich, um seine Schuhe zu binden.
Er sah auf seine Armbanduhr. Seit die Krankenschwester ihn vor zwölf Minuten in dieser fensterlosen Zelle geparkt hatte, war er gezwungen gewesen, klassischer Klaviermusik zuzuhören, die irgendwo in der Ferne erklang. Allmählich ging ihm das Geklimper auf die Nerven. Mike war kein Musiker, aber selbst als Laie hörte er, dass das Instrument, auf dem gespielt wurde, völlig verstimmt war. Es kam ihm vor wie ein schlechtes Omen. Klaviermusik in einem Ärztehaus? Woher kam der Klang denn nur? Jedenfalls nicht aus den Lautsprechern, wie es oft bei Büros der Fall war, sondern sie drang leise und gedämpft durch die dünne Wand zum Raum nebenan. Mike überlegte eine Weile, wie das sein konnte, bis ihm einfiel, dass das Beratungszentrum in diesem Gebäude einen Aufenthaltsraum für Tagespatienten hatte. Er meinte sich zu erinnern, dass er dort ein Klavier gesehen hatte, als er nach seiner ersten Krebsoperation vor ein paar Jahren dort gewesen war. Das musste es sein.
Nachdem er das Geheimnis um die Klaviermusik gelüftet hatte, hatte Mike wieder nichts zu tun. Er beugte sich vor, um die Fotos von Frau und Kindern auf dem Schreibtisch des Arztes zu betrachten, während die Klaviermusik wie ein Hagelschauer auf dem Dach eines Hangars auf ihn einhämmerte. Er hielt nicht viel von dieser eingebildeten, intellektuellen Musik. Im Gegenteil, sie machte ihn nervös.
Das Wartezimmer des Arztes war überfüllt gewesen und Mike fragte sich, wie viele Patienten wohl gekommen waren, um ihre Untersuchungsergebnisse abzuholen, so wie er. Ihm wurde bewusst, dass dieses kleine Drama sich in Zimmern wie diesem Dutzende Male in diesem Land abspielten, vielleicht überall auf der Welt. Manche Menschen erhielten gute Nachrichten und gingen erleichtert mit ihrer Familie nach Hause, lächelnd und wieder frei atmend. Andere wurden mit schlechten Befunden konfrontiert. Er fragte sich, wie die meisten Menschen mit solchen Nachrichten fertigwurden. Er hatte in gut einer Woche, die seit den Untersuchungen verstrichen waren, genügend Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und Mr Blakes Last-minute-Flug an diesem Vormittag hatte Mikes Entscheidung bekräftigt. Er wusste genau, was er tun würde.
Jetzt klang es so, als würde der Klavierspieler nebenan auf der Tastatur abwechselnd Loopings, Sturzflüge und Drehungen um die eigene Achse vollführen. Sobald dieser Arzttermin vorüber war, egal, mit welchem Ergebnis, würde er zum Flugplatz zurückfahren und mit einem seiner Flugzeuge selbst den einen oder anderen Looping, Sturzflug oder Überschlag vollführen. Dieser Entschluss stand fest. Ungeduldig rutschte er auf dem Stuhl hin und her, weil er es kaum erwarten konnte, sich in den Himmel hinaufzuschwingen.
Endlich hörte er draußen auf dem Gang Schritte und die murmelnde Stimme von Dr Bennett. Er setzte kurz die Kappe auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. Schließlich konnte er den Arzt nicht mit schwitzigen Händen begrüßen. Mike stellte sich vor, wie der Arzt seine Karte aus der Plastikhülle an der Tür nahm und betrachtete: MICHAEL G. DOLAN, MÄNNLICH, ALTER 65, KARZINOM: COLON [C2] Hemikolektomie rechts 1984, Verdacht auf Rezidiv.
Mike wartete und hielt dabei, ohne dass er es merkte, die Luft an. Er erinnerte sich an das letzte Mal; die hässliche Hilflosigkeit, im Krankenhaus auf dem Rücken zu liegen, die mitleidigen Blicke, mit denen jeder ihn ansah, das aufgesetzte Lächeln und der gedämpfte Tonfall ihrer Stimmen. Das würde er nicht noch einmal mitmachen, komme, was wolle. Und er würde auch nicht in Selbstmitleid baden, wenn der Krebs zurückgekehrt war. Er hatte ein langes, glückliches Leben hinter sich, voller Spaß und Abenteuer, und wenn dies das Ende für ihn war, dann würde er sich nicht beschweren. Er wusste nicht viel über das Jenseits, aber er vermutete, dass es der beste Flug seines Lebens sein würde – so wie ohne Flugzeug zu fliegen.
Nebenan schwang sich die Musik in die Höhe und stürzte dann in ein kraftvolles Finale. Mike schüttelte den Kopf. Das verstimmte Klavier sorgte für eine ziemlich unsanfte Landung.
Endlich ging die Tür auf und Dr. Bennett trat mit einer Mappe in der Hand ein. Der Arzt war gut fünfzig, groß und kantig, mit wildem schwarzem Haar und dunklen Ringen unter den Augen. Seine grimmige Miene ließ Mikes Herz schneller schlagen. Sie gaben einander die Hand.
„Wie geht es Ihnen, Mike?“
„Das müssten Sie doch eigentlich wissen.“
„Entschuldigung?“
„Gut, Doc. Mir geht es gut.“ Warum sagte man immer gut – egal, wie es einem ging?
Der Stuhl des Arztes quietschte, als er sich hineinfallen ließ. Dr. Bennett nahm sich Zeit, während er die Untersuchungsergebnisse studierte und dabei mit seinen knochigen Fingern auf den Schreibtisch trommelte, die Lippen gespitzt. Er vertiefte sich in die Unterlagen, anstatt Mike anzusehen. Kein gutes Zeichen.
„Mike, diesen Laborberichten zufolge scheint es Metastasen in der Leber zu geben.“ Mike hatte das Gefühl, dass sein Magen einen Satz machte, so als wäre er in einen plötzlichen Aufwind geraten. „Was bedeutet das?“
„Es bedeutet, dass der Krebs sich auf Ihre Leber ausgeweitet hat.“
„Sind Sie sicher?“
„Ich fürchte, ja.“
Mike dachte, er wäre auf diese Nachricht vorbereitet gewesen, aber jetzt durchfuhr ihn ein Gefühl von Panik. So intensiv, als wäre er ein unerfahrener Pilot, dem während eines Fluges plötzlich der Motor unter ihm den Dienst versagt. Wenn Mike in einem Cockpit säße, würde er mit seiner jahrelangen Erfahrung wissen, was zu tun war. Aber jetzt saß er nicht im Cockpit. Er befand sich auf unbekanntem Terrain. Und es war ein Blindflug. Eine Welle von gemischten Gefühlen zog ihn gegen seinen Willen hinunter und mit dem verzweifelten Instinkt eines Piloten, der sich im tödlichen Sturzflug befand, versuchte er krampfhaft, die Kontrolle wiederzuerlangen. Wie auf Kommando begann das Klavier nebenan ein langsames, trauriges, mitfühlendes Stück zu spielen, genau wie im Kino.
„Ich würde gerne weitere Untersuchungen machen, um festzustellen, ob Sie ein Kandidat für eine Resektion sind“, fuhr Dr. Bennett fort. Mike hörte ihn kaum. Es konnte nicht wahr sein. Sie hatten einen Fehler gemacht. Seine Gedanken taumelten, waren außer Kontrolle geraten.
Plötzlich dachte er an Helen. Die Erinnerung an den Mut seiner Frau im Angesicht des Todes beruhigte ganz unerwartet sein rasendes Herz. Er hatte sich wieder im Griff, seine Emotionen reagierten auf seine Willenskraft. Er bestimmte wieder, wohin es ging. Mit einem schwachen Lächeln und einem kaum sichtbaren Nicken bestätigte er, dass er die Wahrheit akzeptieren würde. Für mich brauchst du keine traurigen Stücke zu spielen, hätte er dem Klavierspieler nebenan am liebsten gesagt. Ich will mit einem Tanz abtreten.
„… und wenn die Untersuchungen zeigen, dass Sie ein Kandidat für eine Resektion sind, dann werde ich einen Termin für die Operation ansetzen“, sagte Dr. Bennett.
„Warten Sie mal, Doc. Was bedeutet das unterm Strich? Wahrscheinlich werde ich trotzdem sterben, oder?“ Er lächelte, weil er hoffte, es würde den Arzt davon überzeugen, dass er die Wahrheit verkraften konnte. Dr. Bennett klappte die Akte zu und faltete die Hände darauf.
„Der Krebs hat gestreut. Wahrscheinlich können wir ihn nicht aufhalten oder alle bösartigen Zellen entfernen.“
„Warum wollen Sie dann noch mal operieren?“
„Bei einer erfolgreichen Resektion erhöht sich die Lebensdauer um zirka 15 Prozent und …“
„Nein. Wenn es nur eine Frage der Zeit ist, würde ich es lieber nicht in die Länge ziehen.“ Mike hatte sich diese Szene vorher ausgemalt und zitierte die Zeilen als Antwort auf die Stichworte des Arztes wie in einem gut geprobten Theaterstück.
„In manchen Fällen können eine Operation und eine Chemotherapie dem Patienten etwas mehr Zeit geben. Das Ganze erträglicher machen …“
„Das ist nichts für mich.“
„Hören Sie, Mike …“
„Es hat doch eigentlich keinen Sinn, wenn Sie wissen, was ich meine. Wenn die Operation mich nicht heilen kann, warum sich die Mühe machen? Ich will nicht noch einmal ins Krankenhaus und meiner Familie diese Situation zumuten.“
„Lassen Sie mich wenigstens sagen, zu welcher Behandlung ich Ihnen raten würde.“
Mike lächelte. „Nein, danke. Sagen Sie mir einfach, wie lange ich noch habe.“
Der Arzt nahm einen dünnen goldenen Stift von seinem Schreibtisch und fing an, ihn zwischen den Fingern zu drehen. „Das ist schwer zu sagen.“
„Schätzen Sie. Ich werde Sie nicht vor Gericht zerren, wenn Sie sich irren.“
Dr. Bennett wandte den Blick ab. „Wenn Sie sich weder einer Operation noch einer Chemotherapie unterziehen … vielleicht drei Monate. Höchstens sechs.“
Mike wiederholte die Worte in Gedanken, aber eigentlich verstand er sie kaum. Er hatte noch drei Monate zu leben. Höchstens sechs.
Im Nebenraum triefte das Klavier vor Mitgefühl wie ein Wischmob trieft, wenn die Putzfrau ihn auswringt, aber die schiefen Töne ließen es komisch klingen wie bei einem alten Stummfilm. Mike stellte sich vor, wie die ganzen blau gefärbten Damen, die ehrenamtlich im Beratungszentrum der Krebshilfe mitarbeiteten, ihre Taschentücher zückten. Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich lächeln.
„Danke, Doc. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie so ehrlich zu mir sind.“
Jetzt, wo Mike die Wahrheit kannte, wollte er dieses kleine Zimmer so schnell wie möglich hinter sich lassen und mit dem, was ihm von seinem Leben noch blieb, weitermachen. Die Herbstluft atmen. Sich in den blauen Himmel hinaufschwingen. Er stand auf und machte einen Schritt auf die Tür zu. Der Stuhl des Arztes gab ein dumpfes Geräusch von sich, als der Mann sich auf ihm drehte und Mike ansah.
„Bitte denken Sie noch einmal darüber nach, Mike. Sprechen Sie wenigstens mit Ihrer Familie darüber. Und wenn Sie es sich anders überlegen, kann ich Sie sofort einschieben.“ Mike nickte unverbindlich und machte die Tür auf. „Darf ich Ihren Namen an die Krebshilfe weitergeben?“, fragte der Arzt. „Sie bieten eine Menge hilfreicher Dienstleistungen an.“
„Klar. Kein Problem.“ Mike war schon halb zur Tür hi-naus, als er noch einmal stehen blieb und sich umdrehte. „Übrigens, wie oft spielen die da drüben eigentlich auf diesem schrecklichen Klavier?“ Er zeigte mit dem Daumen auf die Wand zum Nebenraum.
„Sie meinen im Zentrum? Ich weiß nicht … vielleicht ein, zwei Mal im Monat. Meistens bei Spendenaktionen und Veranstaltungen für die Patienten, nehme ich an.“
„Dann würde ich mir Ohrstöpsel kaufen, wenn ich Sie wäre, Doc.“
Er schwenkte seine Kappe zum Gruß, zog sie dann auf und schlenderte durch das Wartezimmer ins Foyer. Die hohen Türen umrahmten einen herrlichen Blick auf sanfte grüne Hügel, hier und da von den ersten Herbstfarben unterbrochen; in leuchtendem Kupfer, Bronze und Gold. Mike erstarrte bei diesem wundervollen Anblick. Er liebte den Herbst und genoss es, mit seinem Flugzeug über die vertrauten Landschaften von Connecticut zu fliegen, so wie er es an diesem Morgen getan hatte.
In drei Monaten würde die feurige Schönheit des Herbstes erloschen sein – genau wie sein Leben. Drei Monate blieben ihm noch. September, Oktober und November. Er dachte an die Zeit vor drei Monaten. Juni. Als wäre es gestern gewesen.
Plötzlich hörte Mike donnernden Applaus durch den Flur dringen und er erinnerte sich an das Klavier. Er folgte dem Klang, weil er wissen wollte, welcher Pianist die musikalische Begleitung zu Dr. Bennetts tragischen Neuigkeiten gespielt hatte. „Bin ich zu spät für das Konzert?“, fragte er die Dame am Empfang.
„Ja, ich fürchte, es ist fast vorbei, aber vielleicht spielt Professor Brewster ja eine Zugabe. Im Aufenthaltsraum auf der rechten Seite.“
Der Raum war zum Bersten gefüllt, jeder verfügbare Platz war mit Klappstühlen und Sesseln bestückt. Mike quetschte sich in den Raum und fand einen Stehplatz hinten an der Wand, neben einer hübschen blonden Krankenschwester. Er blickte über die Köpfe hinweg und entdeckte Professor Brewster. Es war eine Frau, Frau Professor, die sich steif neben dem Klavier verbeugte. Sie sah überhaupt nicht so aus, wie Mike gedacht hatte. Statt eines vornehmen Herrn mit weißem Bart und Frack sah er eine prüde aussehende Frau mit unförmigem Körper, die einen hässlichen schlammfarbenen Hosenanzug trug. Sie war ungefähr so alt wie er selbst, schätzte Mike, und trug ihr Haar kurz. Ihre Haltung war steif und aufrecht und alle Falten in ihrem Gesicht schienen sich zu einem dauerhaften Stirnrunzeln zusammenzufügen.
„Ist das Professor Brewster?“, fragte er die Krankenschwester in einem aufgesetzten Flüsterton.
„Ja.“
„Meinen Sie, sie weiß, dass ihr Klavier verstimmt ist?“
„Schhh …“ Professor Brewster hatte das Wort ergriffen.
„Danke sehr, meine Damen und Herren. Sie sind sehr freundlich.“ Ihre Stimme klang kalt und förmlich und ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. Aus irgendeinem Grund kam sie Mike bekannt vor und er versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie sich schon begegnet sein könnten.
„Als Zugabe werde ich ein kurzes Stück von Bach spielen.“ Sie sprach den Namen des Komponisten mit heiliger Ehrfurcht aus, so wie Fernsehevangelisten das Wort „Gott“ aussprachen.
Während die Zugabe erklang, stellte Mike fest, dass es viel interessanter war, Professor Brewster beim Spielen zu beobachten, als ihr durch die Wand zuzuhören. Sie saß steif auf dem Klavierhocker, gefährlich nah an der Kante, und starrte das Klavier an wie ein General, der den Feind abschätzt. Ihre langen, schmalen Finger schwebten regungslos über den Tasten und griffen dann plötzlich an wie gut gezielte Raketen. Die Musik ratterte wie eine Maschinengewehrsalve. Wenige Augenblicke später wurde die Musik langsamer und die Professorin streichelte mit den Fingern jede Note, als wollte sie um das Instrument werben, während sie seinem Korpus beruhigende Klänge entlockte. Mike sah ihr fasziniert zu.
Als die Zugabe zu Ende war, brach das Publikum erneut in wilden Beifall aus. Plötzlich wusste Mike, warum die Dame ihm bekannt vorkam, und er lachte laut auf. Die blonde Krankenschwester sah ihn an, als erwarte sie eine Erklärung.
„Tut mir leid“, sagte er lachend. „Ich habe nur gerade festgestellt, dass die Professorin mich an ein Kartenspiel erinnert, das ich als Kind hatte. Sie sieht aus wie ‚Die alte Jungfer‘.“
Die Schwester riss die Augen auf. „Also wirklich, Sir! Wilhelmina Brewster ist in unserem Vorstand! Sie ist Musikprofessorin am Faith College und eine sehr bedeutende Persönlichkeit unserer Stadt!“
„Äh, tut mir leid, Miss.“ Mike lächelte und berührte sie am Arm. „Ich wollte die Gute nicht beleidigen. Verzeihen Sie mir?“
„Ja, ist schon okay“, sagte die Krankenschwester mit einer lässigen Handbewegung.
„Sagen Sie, Miss …“ Er beugte sich vor und flüsterte wie ein Verschwörer. „Ist Professor Brewster verheiratet?“
Die junge Frau warf der Pianistin, die sich jetzt steif verbeugte, einen Blick zu und hielt sich dann die Hand vor den Mund, um ein Lächeln zu verbergen. „Nein … ist sie nicht.“ Mike legte einen Finger auf seine Lippen und zwinkerte.
Als der Applaus endete und die Zuhörer aufstanden, um zu gehen, watete Mike durch die Menge auf das Klavier zu. Professor Brewster begrüßte einige Personen aus dem Publikum, als wären sie Trauernde bei einem Begräbnis. Feierlich und mit grimmiger Miene gab sie ihnen die Hand. Mike wartete, bis er an der Reihe war, überrascht, wie groß sie aus der Nähe war – eine gute Handbreit größer als er. Als er schließlich vor ihr stand, ergriff er ihre trockene, schlaffe Hand und schüttelte sie heftig.
„Hi, Professor Brewster. Mein Name ist Mike Dolan. Ich habe Ihre Zugabe genossen, aber wissen Sie, dass Ihr Klavier verstimmt ist?“
Professor Brewsters Augenbrauen schossen in die Höhe und sie starrte ihn mit offenem Mund an, als hätte der Puppenspieler versehentlich die Strippen fallen lassen. Jemand hinter ihm murmelte: „Wie unverschämt!“ Das war gar nicht Mikes Absicht gewesen. Er beeilte sich, seinen Fehler wiedergutzumachen.
„Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen, Ma’am. Aber wenn das Beratungszentrum es sich nicht leisten kann, das Klavier stimmen zu lassen, kann ich ein bisschen was beisteuern. Ich weiß, dass es immer schwierig ist, an Gelder zu kommen. Glauben Sie mir, das Geld wäre gut investiert!“ Miss Brewsters Blick hätte Lava in Stein verwandeln können. Ihre Mundwinkel zogen sich missbilligend nach unten, während sie ihre Hand aus Mikes enthusiastischem Griff riss. Wie konnte er ihr verständlich machen, dass er sie nicht hatte kränken wollen? „Natürlich bin ich nur ein normaler Mensch und verstehe nicht so viel von Musik wie Sie, da bin ich mir sicher. Aber der Klang geht einem schon ziemlich auf die Nerven, wissen Sie? Weil das Ding so verstimmt ist. Vor allem, als ich nebenan im Zimmer des Doktors saß und erfahren habe, dass ich in drei oder vier Monaten sterben werde. Wahrscheinlich stört es andere auch.“ Mike lächelte breit, aber die strenge Miene der Professorin blieb unverändert.
„In Ordnung, wie wäre es hiermit, Professor? Sie organisieren einen guten Instrumentenbauer, der das Klavier stimmt, und dann rufen Sie mich an.“ Er kramte in der Tasche seines Arbeitshemdes. „Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich an, dann überweise ich etwas, um mich an den Kosten zu beteiligen.“
Sie machte keine Anstalten, seine Karte entgegenzunehmen, darum schob Mike sie ihr in die Tasche ihres Hosenanzugs. Dann wandte er sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um.
„Ach ja, und in der Zwischenzeit gewähren Sie einem Sterbenden eine letzte Bitte … lassen Sie niemanden auf dem Ding spielen, bis es repariert ist, okay?“ Er streckte die Hand aus und klappte den Klavierdeckel mit einem leisen, melodischen Knall zu. Die Saiten des Instruments schienen erleichtert zu sein. „Ciao.“ Mike tippte sich an die Kappe und machte sich auf den Weg zum Flugplatz, um sich ein Stück Himmel zu gönnen.



Wilhelmina Brewster trat mit raschen Schritten durch die Tür des Beratungszentrums. Sie hatte keinen Grund, sich zu beeilen, aber die lebenslange Gewohnheit ließ sich nicht abschütteln. Während sie zu ihrem Wagen ging, ohne ihre Umgebung und den schönen Herbstnachmittag wahrzunehmen, ging sie in Gedanken jede Note des Klavierkonzerts durch, das sie gerade gegeben hatte. Sie hatte gut gespielt.
Als Wilhelmina auf die Straße trat, um zum Parkplatz zu gehen, schoss plötzlich ein Cabrio vorbei, vor dem sie erschrocken zurückwich. In dem Auto saßen junge Leute, einige von ihnen in Sweatshirts mit dem Logo des Faith College. Sie hupten und stimmten das Football-Lied des Colleges an. Wilhelminas gute Laune verschwand in Sekundenschnelle. Stattdessen stieg ein Groll gegen diese Fremden in dem lauten Cabrio in ihr auf, weil die jungen Leute sie an einen Ort erinnerten, an dem sie sein wollte, zu dem sie aber nicht mehr gehörte; einen Ort, der einen so wichtigen Teil von ihr darstellte, an dem sie aber nicht mehr erwünscht war. Der Wagen bog um die Ecke und buntes Laub stob auf.
Sie schloss ihre blaue Buick-Limousine auf und stieg ein. Das Kunstlederpolster war heiß von der Nachmittagssonne. Nach sieben Jahren roch der Wagen immer noch neu. Hoffnung keimte in ihr auf, als sie den Motor anließ. Es musste doch einen Ort geben, an dem sie erwartet wurde: ein Treffen der Pro-Life-Vereinigung von Connecticut, die Frauengruppe der Missionsgesellschaft, ihre wöchentliche Bibelstunde, der Gartenverein? Aber es gab nichts außer ihrem Haus, wohin sie konnte, nirgendwo wurde sie gebraucht oder gewollt. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen, und schämte sich deswegen. Sie war immer so stark gewesen, so stolz auf ihre Unabhängigkeit. Warum war sie in letzter Zeit nur so emotional?
Sie stellte den Motor wieder aus und kramte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch. Stattdessen fand sie darin eine Visitenkarte. In einer Ecke war ein Flugzeug abgebildet und darunter stand in leuchtend blauen Buchstaben:

Michael G. Dolan
Dolan und Söhne Flugservice
Transport- und Pendelflüge
Privatunterricht

Einen Moment lang starrte sie auf die Karte und wusste nicht, wie sie in ihren Besitz gekommen war, doch dann erinnerte sie sich an den unhöflichen kleinen Mann, der ihr gesagt hatte, das Klavier sei verstimmt. Als wenn das ihre Schuld wäre! Jeder wusste, dass ein Pianist auf dem Instrument spielte, das vorhanden war! Ein Klavier kann man schließlich nicht einfach so stimmen wie eine Geige oder eine Harfe! Sie ließ die Szene vor ihrem geistigen Auge noch einmal ablaufen und überlegte, welche vernichtende Antwort sie ihm hätte geben können. In dem Moment selbst war sie angesichts seiner Unverschämtheit sprachlos gewesen. Was hatte er sonst noch gesagt? „… nur noch drei oder vier Monate zu leben … einem Sterbenden eine letzte Bitte gewähren …“
Mit einem Seufzer tat sie den Zwischenfall ab. Sie dachte nicht gerne daran, aber wahrscheinlich waren heute in ihrem Publikum viele todkranke Menschen gewesen. Sie selbst war seit einigen Jahren ehrenamtliche Helferin, nachdem ihre Mutter an Krebs gestorben war. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie Mr Dolans letzten drei oder vier Monate sein würden. Aber wusste er es auch? Wahrscheinlich nicht. Er hatte zu fröhlich gewirkt, hatte gar nicht um Mitleid gebettelt. Bestimmt hatte er die Wahrheit noch gar nicht richtig erfasst. Er leugnete sie noch. Aber wenn diese Phase vorbei war …
Wieder kamen ihr die Tränen und sie schimpfte mit sich selbst, während sie in der Handtasche nach einem Taschentuch suchte. „Also wirklich, Wilhelmina! Sei doch nicht so sentimental!“
Sie erinnerte sich daran, wie sie bei ihrer Verabschiedung in den Ruhestand im Frühjahr der langen Rede von Dekan Bradford gelauscht hatte. Tapfer lächelnd hatte sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht und ihren unerträglichen Schmerz verborgen, während er sie von dem Leben abschnitt, das sie so sehr liebte.
„Natürlich ist dies kein Abschied“, hatte der Dekan gesagt. „Als emeritierte Lehrkraft wird Frau Professor Brewster bestimmt oft wegen ihrer Expertise und Erfahrung zu Rate gezogen werden.“ Er hatte angedeutet, dass er vielleicht eine Ausnahme von der Pflichtpensionierung für sie erwirken könne, sodass sie in Teilzeit am Institut bleiben konnte, aber das war nicht geschehen. Sie hatten ihre Stelle wieder ausgeschrieben und ihr Name stand nicht auf der Liste der Juroren für das Vorspiel der Studienanfänger, die sich um ein Stipendium bewarben. Auch die Einladung zur jährlichen Herbstfeier der Fakultät war nie eingetroffen. Sie hatte tapfer gelächelt, als hätte es überhaupt nicht wehgetan, so wie Mr Dolan an diesem Nachmittag gelächelt hatte. Aber jetzt war der Campus wieder zum Leben erwacht, ein neues Semester hatte begonnen und zum ersten Mal seit einundvierzig Jahren gehörte Wilhelmina nicht dazu. Wahrscheinlich saß ein selbstbewusster junger Doktorand jetzt in ihrem Büro und stellte seine Bücher in ihre Regale, während sie alleine hier saß. Sie hatte dem Faith College ihr ganzes akademisches Leben gewidmet und sie hatten es genommen und ihr nur eine kleine Pension gelassen und sie mit ein paar Abschiedsgeschenken abgespeist.
In vielerlei Hinsicht starb auch sie, genau wie Michael G. Dolan, nur dass Mr Dolan bald in Frieden ruhen würde, während sie ihre triste Existenz fortsetzen musste. Sie schnäuzte sich in ihr spitzenbesetztes Taschentuch. Ja, die Wahrheit war endlich durchgesickert.
Sie ließ den Motor wieder an und legte den Gang ein, um den langen Weg nach Hause zu fahren, anstatt die Abkürzung über den Campus zu nehmen. Ihr Haus, ein schickes, zweigeschossiges Backsteingebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert sah im Licht des Herbstnachmittags kalt und dunkel aus. Sie fuhr bis zum Ende der geschwungenen Auffahrt, vorbei an ihren gepflegten Blumenbeeten und Rosenbüschen. Sie war stolz auf ihren Garten. Die meisten Nachbarn von ihr beauftragten Gärtner oder Landschaftsarchitekten mit bestimmten Aufgaben, aber Wilhelmina liebte die Arbeit mit ihren Blumen beinahe so sehr wie das Klavierspielen. Mit dem Unkrautjäten, Düngen und sorgfältigen Beschneiden war sie den Sommer über meist beschäftigt gewesen, aber der erste Frost in zwei Wochen würde ihr auch diese Freude noch rauben.
Sie fuhr den Wagen in die Garage und ging um das Haus herum, um den Briefkasten zu leeren in der Hoffnung, einen Brief mit dem vertrauten Logo des Colleges darin zu finden. Inzwischen müssten sie doch gemerkt haben, dass ihnen ein Fehler unterlaufen war. Sie würden sich für das Versehen entschuldigen und sie bitten zurückzukommen. Aber das Einzige, was im Briefkasten lag, war eine Broschüre: „Angebot zum Semesterbeginn – eine große Pizza – mit Studentenausweis $2 günstiger.“ Erbost schloss sie die Haustür auf und warf den Flyer kurzerhand in den Papierkorb im Flur.
Als sie ihr Wohnzimmer betrat und das Licht einschaltete, kam es ihr vor, als wäre sie erst vor wenigen Minuten zu ihrem Konzert aufgebrochen. Ihre Möbel aus poliertem Kirschholz reflektierten den Schein der Lampe, aber der Raum wirkte immer noch dunkel auf sie. Vielleicht sollte sie die orientalischen Teppiche und die Vorhänge reinigen lassen. Eine feine Staubschicht lag auf dem Flügel, aber sie widerstand dem Drang, mit der Hand darüberzufahren, weil sie wusste, dass es dem Lack schadete. Stattdessen steckte sie den Finger in die Erde ihrer Usambaraveilchen, die im Erkerfenster standen. Sie brauchten Wasser. Vielleicht sollte sie das ganze Haus von oben bis unten putzen und die langen Wintertage mit anstrengender Arbeit füllen. Ihr älterer Bruder hatte ihr geraten, sich für den Winter eine Beschäftigung zu suchen. Aber was konnte schon ihren Lehrberuf ersetzen?
Wilhelmina legte eine Chopin-Etüde auf, schaltete die Musik aber gleich nach den ersten Tönen wieder aus. Einer ihrer Studenten hatte diese Etüde bei seinem Vorspiel im letzten Frühjahr gespielt. Wie lange würde es dauern, bis die Erinnerungen verblassten? Wie lange, bis sie sich eine Aufnahme anhören oder ein Konzert besuchen konnte, ohne diesen schrecklichen Schmerz zu empfinden?
Die Uhr verriet ihr, dass es Zeit fürs Abendessen war, aber sie hatte keinen Hunger. Sie stocherte ein wenig in einem Rest Salat, aß einen halben Muffin und schüttete dann eine Kanne abgestandenen Kaffee in den Ausguss. Müde sah sie die Notizen durch, die sie sich selbst zur Erinnerung geschrieben und mit kleinen Magneten in Form einer Viertelnote an den Kühlschrank geheftet hatte. Für heute Abend war nichts geplant. Und für morgen auch nicht.
Plötzlich läutete das Telefon und sie eilte, um den Anruf entgegenzunehmen in der Hoffnung, sie würde Dekan Bradfords vertraute Stimme hören, die ihr ein Ende ihres sinnentleerten Daseins versprach. „Hallo, Wilhelmina? Carol hier. Wie geht es dir?“ Enttäuschung und Wut trieben Wilhelmina erneut die Tränen in die Augen und erstickten ihre Antwort. „Ich rufe an, um dich an das Treffen diesen Freitag im Krebsberatungszentrum zu erinnern. Wir bekommen die Adressen von neuen Patienten, die wir nächste Woche anrufen sollen und …“
„Von dem Treffen weiß ich schon, Carol.“
„Ja, aber ich soll alle anrufen. Ich mache nur meinen Job.“
„Tut mir leid“, sagte Wilhelmina und blinzelte die Tränen fort. „Brauchst du am Freitag eine Mitfahrgelegenheit? Ich kann dich abholen.“ Carol brauchte immer eine Mitfahrgelegenheit.
„Ja, das wäre nett, wenn es dir nichts ausmacht. Also dann bis Freitag. Mach’s gut.“
Wilhelmina vergewisserte sich, dass der Termin in ihrem Kalender stand, und war froh darüber, dass wenigstens eine der riesigen leeren Seiten mit etwas gefüllt war. Das Bild für September zeigte ein verwittertes altes Schulhaus mit einem Klassenraum unter einer Eiche im Herbstlaub. Der Spruch dazu ermahnte sie: „Freut euch im Herrn allezeit!“ Was sollte das wohl bedeuten? Wie sollte sie sich freuen, wenn man ihr gegen ihren Willen ihren Lebensinhalt genommen hatte? Sich im Herrn freuen? Sie hatte Gott ihr ganzes Leben geopfert, aber jetzt schien sie ihm nicht mehr wichtig zu sein. Nicht einmal ihre Gebete erhörte er! Sie riss das Bild vom Kalender und zerknüllte es, bevor sie es quer durchs Zimmer warf. Dann setzte Wilhelmina Brewster sich an den Tisch, ließ den Kopf auf die Arme sinken und weinte.
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